Chateau Montaigne

1. Station: Château Montaigne – Périgord/Frankreich
9. Mai 2020

LeseZeichens Europareise beginnt im Südwesten Frankreichs. Rund sechzig Kilometer östlich von Bordeaux stoßen wir zwischen Wald und Weinreben auf Schloss Montaigne. Nach einem Brand 1885 wurde es im für diese Zeit typischen historisierenden Stilmix von Romanik bis Renaissance wieder aufgebaut. Original erhalten ist aber noch der sogenannte Bibliotheksturm in einer Ecke des komplett umbauten Schlosshofes. Und dieser Turm ist der Grund unserer Reise. Hier, in dieser idyllischen Ruhe, wirkte fast dreißig Jahre lang bis zu seinem Tode im Jahre 1592 der Philosoph und Schriftsteller Michel de Montaigne. Seine Gedanken zu unterschiedlichen Themen wie Philosophie, Geschichte, Natur, Gesellschaft oder Literatur fasste er in aussagekräftigen Texten zusammen. Er nannte diese kurzen Reflexionen Essais – Versuche. Und damit schuf er eine literarische Gattung, die bis heute Bestand hat: der Essay. Neu an seiner Form zu schreiben war vor allem die Idee, den Autor mit seiner eigenen Erfahrung und Haltung nicht auszuklammern, sondern in die Betrachtung mit einzubeziehen, ja, den Text sogar von der eigenen Person ausgehen zu lassen.
In allen Sprachräumen wird diese freie, von den Zwängen der wissenschaftlichen Methodik befreite Textform zur Gestaltung öffentlicher Diskussionen geschätzt. Kaum ein Schriftsteller übergeht die Möglichkeiten des Essays, wenn er ein bestimmtes Ereignis aus seiner Sicht schildern möchte oder seine Meinung oder Haltung zu einem bestimmten Thema formuliert. Stefan Zweig und Jean Jaques Rousseau gehören sicher zu den bekanntesten Protagonisten. Aber auch Goethe, Voltaire oder Bertolt Brecht bedienten sich dieser Möglichkeiten.

Aber nicht nur als Schöpfer einer Literaturform erlangte Montaigne Bedeutung. Mit seinen Texten selbst nahm er Einfluss auf das Denken seiner Zeit. Und das nicht nur in Frankreich. Teile seines Essays „Menschenfresser“ wurden wenige Jahre nach seinem Tod in das Theaterstück „Der Sturm“ von William Shakespeare aufgenommen. Er lässt den alten Hofrat Gonzalez aus diesem Text zitieren. Sehr kritisch setzt Montaigne sich hier mit dem Umgang der Europäer mit der einheimischen Bevölkerung bei der Eroberung der neuen Welt auseinander.
Tritt man heute in den alten Bibliotheksraum im zweiten Obergeschoss des Turmes ein, so erfasst einen sofort die Atmosphäre, in der Montaigne dachte und schrieb. Die ca. tausend Bücher der für das 16. Jahrhundert mehr als beeindruckenden Bibliothek sind wohl im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen. Erhalten sind aber die zahlreichen Sinnsprüche und Aphorismen, die er in die Balken des Turmzimmers einbrennen ließ. Teilweise stammen sie von biblischen und antiken Autoren. Teilweise sind es seine eigenen Gedanken. Berühmt und bis heute aussagekräftig beispielsweise: „Es gehört doch immer ein gewisser Grad von Einsicht dazu, wahrzunehmen, dass man nichts wisse.“ Und unverändert ist der freie Blick in die Natur, den der große Denker bei seiner Arbeit so schätzte.

Eine wunderschöne Schilderung dieses Raums und der Atmosphäre verdanken wir übrigens Uwe Timm. Der Autor, der vor wenigen Tagen seinen 80. Geburtstag feiern durfte, verfasste nach einem Besuch an diesem Ort europäischer Kulturgeschichte einen sehr feinfühligen Essay. Veröffentlicht ist es unter anderem in seinem 2015 erschienen Essay-Band. Diese Sammlung von insgesamt zehn Essays nannte er zu Ehren des Stifters der Literaturform und seines so inspirierenden Arbeitsplatzes schlicht „Montaignes Turm.“
Château Montaigne  und der Bibliotheksturm können besichtigt werden. Die Adresse für den Besuch im Internet ist:  
Zum Schloss Montaigne
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