Drina

 

17. Station: Die Brücke über die Drina - Višegrad/Bosnien-Herzegowina
23. August 2020

„Wie für die Ewigkeit gebaut“, „Steinerner Zeuge der Geschichte“. Jeder kennt das eine oder andere Bauwerk, bei dessen Anblick ihm solche Gedanken in den Sinn kommen. Ebenso gibt es immer wieder Bauten, bei denen man den Eindruck hat, Kultur und Natur gingen nahtlos ineinander über und bei denen beeindruckt, wie Menschen ihr Werk in vollkommener Harmonie mit den natürlichen Gegebenheiten gelingen konnte. Alle diese Dinge gehen uns am Ziel unserer heutigen Reisestation durch den Kopf. Ganz im Osten Bosnien-Herzegowinas stehen wir in dem kleinen Städtchen Višegrad an der Drina und betrachten die mächtige, helle Steinbrücke, die sich vor der großartigen Kulisse der Dinarischen Berge über dem breiten Fluss erhebt. Sie gilt als eines der schönsten Baudenkmäler aus der osmanischen Zeit und steht auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes steht. Ivo Andrić hat ihr mit dem 1945 veröffentlichten Roman „Die Brücke über die Drina“ ein literarisches Denkmal gesetzt und dafür gesorgt, dass dieses Meisterwerk, das als herausragendes Beispiel islamischer Ingenieurkunst gilt, nicht nur in der Baugeschichte unseres Kontinents sondern auch in der europäischen Literaturgeschichte seinen festen Platz hat.
Gleich auf der ersten Seite seines Romans führt uns der Autor an den Schauplatz seiner Erzählung:
„Die Schleife, die die Drina hier macht, ist ungewöhnlich scharf, und die Berge auf beiden Seiten sind so steil und nähern sich einander so sehr, dass sie wie ein geschlossenes Massiv aussehen, aus dem der Fluss hervorquillt wie aus einer braunen Wand. Aber da öffnen sich die Berge plötzlich zu einem unregelmäßigen Amphitheater, dessen Durchmesser an der breitesten Stelle nicht größer ist als etwa 15 km Luftlinie. An dieser Stelle, wo die Drina mit der ganzen Schwere ihrer grünen und überschäumenden Wassermasse aus dem scheinbar geschlossenen Gefüge der schwarzen und steilen Berge hervorbricht, steht die große, gleichmäßig geschnittene, steinerne Brücke mit ihren elf weitgespannten Bögen. Von dieser Brücke aus erstreckt sich fächerförmig, wie von einer Grundlinie aus, die ganze willige Niederung mit der Stadt Wischegrad und ihrer Umgebung, mit ihren in Hügel eingebetteten Weilern, bedeckt mit Äckern, Weideflächen und Pflaumengärten, durchkreuzt von Feldrainen und Zäunen und gesprenkelt mit Waldstücken und spärlichen Gruppen von Nadelbäumen. “

Mit diesen wenigen Zeilen hat uns Andrić praktisch den kompletten Raum umschrieben, den er auf den weiteren 420 Seiten seines Buchs nicht mehr verlassen wird. Die gesamte Handlung spielt sich hier ab. Alles darüber Hinausgehende wird oft nur angedeutet und wird vor allem in der Perspektive der Auswirkungen auf diesen kleinen Flecken Erde betrachtet und beschrieben. Und diese Auswirkungen sind gewaltig, denn wir befinden uns direkt an einer zentralen Nahtstelle der europäischen Geschichte. Meist verlief hier eine Grenze und stets trafen in diesem Landstrich Völker, Religionen oder Nationen aufeinander. Schon im vorchristlichen Zeiten fanden hier in den Wirren um die Aufteilung des caesarianischen Erbes entscheidende Schlachten zwischen Octavian und Antonius statt und die Aufteilung ihrer Machtbereiche zwischen den beiden verlief in dieser Region nahezu identisch zur heutigen Grenze. Rund 450 Jahre später findet sich diese Trennlinie wieder, als 395 n. Chr. die Teilung zwischen dem oströmischen und dem weströmischen Reich vorgenommen wurde. Später trafen an diesem Fluss die Herrschaftsgebiete unterschiedlicher slawische Fürsten, Könige und auch Despoten aufeinander, bis dann im 15. Jahrhundert der osmanische Sultan sowohl das Königreich Bosnien links der Drina wie auch die serbische Herrschaft rechts der Drina  eroberte und beide seinem immer größer werdenden Reich eingliederte.


Die Grenze blieb als Provinzgrenze bestehen. Jahrhunderte später tauchte Österreich-Ungarn in der Region auf, während rechts der Drina die Serben den Niedergang des osmanischen Reichs zur Neugründung des Königreichs Serbien nutzen konnten. Als sich die österreichische Armee gleich in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs vor den heranrückenden serbischen Truppen zurück zog und die Drina zur Frontlinie des Krieges wurde, sprengten die Österreicher vor ihrem Abzug drei Bögen des gigantischen Bauwerks, das bis zu diesem Zeitpunkt allen Zeiten und Stürmen getrotzt hatte.


Am Tag dieser Zerstörung endet die Erzählung. Eingestiegen ist Andrić nach der zeitgenössischen Beschreibung von Landschaft und Brücke, die nach dem Ersten Weltkrieg wieder repariert wurde, in den Jahrzehnten vor dem Bau des Meisterwerks. Der Autor schildert die beschwerliche Überquerung des Flusses mit der Fähre, berichtet vom Bau mit all seinen Höhepunkten und Schwierigkeiten und begleitet diese Brücke dann nach ihrer Fertigstellung 1577 knapp 350 Jahre lang. Es ist ein eigentümlicher Roman ohne durchgängige Charaktere und auch ohne einen direkt erkennbaren Handlungsstrang. In einzelnen Episoden werden Schlaglichter auf das sich rund um die Brücke entfaltende Leben geworfen. Auch bedingt durch die lange Zeitachse tritt keine der Figuren nachhaltig in den Vordergrund. Nur wenige treten in mehreren der 24 Kapitel auf. Die eigentliche Hauptperson ist aber die Brücke. Auf ihr und rund um sie entfaltet sich das Leben, hier begegnen sich die Menschen, werden zarte Liebesbande geknüpft und lukrative Geschäfte gemacht. Hochzeiten werden gefeiert und vermeintliche Verräter hingerichtet. 


Die ganze Erzählung ist im nüchternen Stil eines Chronisten verfasst. An manchen Stellen wähnt man sich beinahe in einem lebhaft geschriebenen Sachbuch. Literarische Erzählung ist vermutlich die richtige Bezeichnung für das Werk. Die grundsätzlichen Fakten sind sorgsam recherchiert. Sie werden dann aber mit zahlreichen, frei erfundenen Episoden und Ereignissen kombiniert und ausgeschmückt. Das Ergebnis ist ein Werk, das europäische Geschichte in einen wunderbar zu lesenden Text packt und zu Recht zu den wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts gezählt wird. Höhepunkt der öffentlichen Anerkennung war 1961 die Verleihung des Literaturnobelpreises an Ivo Andrić.



Sicherlich der schönste Platz dieses Werk zu lesen, ist die Brücke selbst. Man setze sich auf die sonnengewärmten Steinbänke in der Mitte der Brücke hoch über dem grünen Fluss und lasse die Szenen des Romans vor seinem inneren Auge aufleben. Schnell vermischen sich die Bilder, die man aus dem Roman im Kopf hat, mit den aktuellen Eindrücken, denn die für den Autoverkehr gesperrte Brücke ist heute noch Mittelpunkt des städtischen Lebens und Ziel von Einheimischen und Touristen. Lässt man den Blick über die kleine Stadt hinweg aber nur wenig weiter zu den mächtigen Bergen schweifen, die so undurchdringlich und mächtig vor einem stehen, können wir uns gut vorstellen, mit welch gespanntem Blick die Menschen in den Jahrhunderten vor Erfindung von Telefon, Radio und Fernsehen genau an diesem Punkt standen oder saßen und auf Nachrichten von den Gebieten jenseits der Berge warteten. Je nach politischer Großwetterlage konnte die Brücke mal ein trennendes und dann wieder ein verbindendes Element in der Region sein.


Genau diese Fragen greift der Autor auf, denn Ivo Andrić will uns nicht die Geschichte einer Brücke erzählen. Ihm geht es um nichts weniger als die Geschichte seines Heimatlandes Jugoslawien. Ein Land, das es in der Zeit, in der dieser Roman spielt, noch nicht gab. Und das es heute schon wieder nicht mehr gibt. Wie erleben in diesem Buch, wie sich Religionszugehörigkeiten und staatliche Zuordnungen ändern können, wie Volksgruppen miteinander oder eher nebeneinander leben. Ebenso wird uns vor Augen geführt, wie schnell Misstrauen und Abgrenzung sich in eine Gemeinschaft bohren können.


Andrić gelingt ein beeindruckender Blick in die Vorgeschichte des jugoslawischen Staates, der erstmals nach dem 1. Weltkrieg entstand. Gleichzeitig führt er uns einen wichtigen, bei uns zu oft nicht wahrgenommenen Teil der europäischen Geschichte vor Augen. Er gibt uns aber auch bereits Hinweise, wieso einige wenige Nationalisten in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein Feuer entfachen konnten, das die ganze Region in einen verheerenden Bürgerkrieg stützte und Jugoslawien in zwischenzeitlich sieben Einzelstaaten zerfallen ließ. 

Dieses furchtbare Ende des jugoslawischen Staates erlebte Ivo Andrić nicht mehr mit. Er war 1975 im dreiundachtzigsten Lebensjahr verstorben. Als Sohn katholischer Eltern im österreichisch besetzten und überwiegend muslimisch geprägten Bosnien geboren und aufgewachsen, galt er als bosnischer Kroate. In Višegrad verbrachte er die Jahre seiner Kindheit. Nach dem frühen Tod seines Vaters, der kleine Ivo war gerade zwei Jahre alt, lebte er hier bei einer Tante. Oft dürfte er also auch am Ufer gespielt haben, wie er es in seinem Roman von den spielenden Kindern berichtet. Sein Studium führte ihn nach Zagreb, Wien, Krakau und Graz, wo er 1924 mit seiner Arbeit „Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft“ promoviert wurde. Sein weiteres Leben verbrachte er dann weitgehend in der serbischen Metropole Belgrad, wo er 1975 auch starb. Zu dieser Stadt und den Serben als Landsmannschaft fühlte er sich immer besonders stark hingezogen.

Es ist bei diesem Lebenslauf nicht vermessen, Ivo Andrić als einen echten Jugoslawen zu bezeichnen. Und so sah er sich selbst auch, und dieses geeinte Jugoslawien war sein großes Lebensziel. Viele Jahre seines Lebens widmete er diesem Ziel auch als Diplomat im Dienste des Landes zwischen den beiden Weltkriegen. Sein aktives Eingreifen in die Geschicke seines Landes begann nur wenige Jahre nach dem von ihm gewählten Endpunkt seines Werks. Vielleicht wollte er bewusst die Zeit, in der er Handelnder war, nicht mit der Zeit, die er nur aus der Erzählung kannte oder als Beobachter erlebte, vermischen.

Aber so wie sich die Geschichte von Ländern und Völkern immer weiter entwickelt und es kein Ende der Geschichte gibt, so ist auch die Literatur ein ewiger Fluss, der stets neue Autorinnen und Autoren hervorbringt. Drei Jahre nach Andrićs Tod wurde 1978 an der Drina, in Visegrad, ein Junge geboren, der wenige Jahre später die fürchterliche ethnische Säuberung in seiner Heimatstadt während des Bosnienkrieges erleben musste. Seine Familie konnte nach Deutschland fliehen und kam nach Heidelberg. Hier lernte der Junge Deutsch, sein Deutschlehrer förderte sein schriftstellerisches Talent. Wenige Jahre später veröffentlichte Saša Stanišić, so der Name des Jungen, „Wie der Soldat das Grammofon repariert“, seinen Debütroman, der im Višegrad des Jugoslawienkriegs spielt, stark autobiographische Züge trägt und schnell  in Beziehung zu „Die Brücke über die Drina“ gesetzt wurde. Beschrieb Andrić die lange Epoche des Aufbaus Jugoslawiens, so bewahrt Stanišić die Zerstörung. Noch ist er kein Literaturnobelpreisträger, aber mit Deutschem Buchpreis (2019) und Preis der Leipziger Buchmesse (2014) gehört er schon als gut Vierzigjähriger zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren. 2013 war er übrigens „Der Feuergriffel“, also Mannheimer Stadtschreiber.

Und tatsächlich entstand ein Werk für die Ewigkeit, das Einfluss auf Generationen von Autoren ausübte. Für alle Literaturfreunde, die bisher das Buch immer wieder nach wenigen Seiten in das Regal zurück gestellt haben, soll hier der Rat einer erfahrenen Literaturwissenschaftlerin weitergegeben werden: man solle sich nie den ganzen Ulysees vornehmen. Das Ziel solle immer nur ein Kapitel sein und vor dem nächsten Kapitel sollten wieder andere Bücher gelesen werden. Mindestens einen Versuch müsste diese Taktik wert sein.

Die Ivo-Andrić-Stiftung ist für das Museum in Belgrad verantwortlich. Gleichzeitig unterhält sie einen schönen Internetauftritt mit zahlreichen Informationen über den Autor.
Ivo-Andric-Museum Belgrad
Wunderschöne Bilder der Brücke über die Drina finden sich in diesem Video.
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