Ein großer europäischer Roman
Raimund Gründler • 9. Oktober 2024
"Lichtungen" von Iris Wolff

„Wann kommst Du?“ – wenn diese drei Worte auf einer Postkarte genügen. um einen Mann mittleren Alters aus seinem Alltagstrott herauszureißen und zu einer Fahrt quer durch Europa aufbrechen zu lassen, dann muss schon eine ganz besondere Beziehung zwischen Absenderin und Adressat bestehen. Oder sollte man besser sagen, bestanden haben? Denn die Karte wird in Zürich abgeschickt, nachdem die Schreiberin ihre rumänische Heimat schon etliche Jahre hinter sich gelassen hat.
Mit diesem Aufbruch, dem ein Zusammentreffen in Zürich folgt, eröffnet Iris Wolff ihren Roman „Lichtungen“. Sie erzählt darin von Lev und Kato, die seit ihren Kindertagen in einem kleinen rumänischen Dorf eng miteinander verbunden sind. Was als Freundschaft unter Kindern begann, führte zu einer Liebesbeziehung junger Erwachsener. Wie fest und intensiv diese ist, wird nicht ganz klar, denn die Autorin tritt nicht jede Gefühlsregung ihrer Figuren breit. Manches wird im Unklaren gelassen, mancher Gedanke wird nicht zu Ende gesponnen. In einem Zeitalter, in dem viele junge Menschen in den verschiedenen Online-Medien jede Empfindung der Öffentlichkeit preisgeben und noch breittreten, fällt dies noch mehr auf und steigert den Reiz der Leserinnen und Leser an den Protagonisten.
Unabhängig davon, wie fest die Beziehung des Paares war, den Fall des kommunistischen Regimes und die Öffnung der europäischen Grenzen überlebt sie nicht. Während der junge Mann in seiner Heimat festsitzt, zieht es die dynamischere Kato hinaus in die Welt. Lev bleiben nur ihre gezeichneten Postkarten aus ganz Europa.

Am 27. Januar 2025 jährt sich zum 80igsten Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Seit 1996 wird dieser Tag in Deutschland als offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In einer Zeit, in der Dinge, die jahrzehntelang als unsagbar galten, plötzlich wieder ungeniert verbreitet werden, in einer Zeit, in der wieder die Entrechtung von Menschen gefordert wird, ist so ein Gedenktag wichtiger und notwendiger denn je. Dabei kommt den Stimmen der Überlebenden eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten und müssen uns Mahnung für unser Handeln sein. Achtzig Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorsystems wird die Zahl der Zeitzeugen leider von Jahr zu Jahr geringer. Immer weniger Menschen können den nachfolgenden Generationen aus eigener Erfahrung von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft berichten. Immer seltener werden damit die Stimmen, die aus eigenem Erleben berichten können, zu welchen Exzessen totalitäre Systeme führen können und was es bedeutet, wenn die Bewahrung der Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Religion nicht mehr oberste Maxime eines Staates ist. Umso wichtiger ist es, dass die Texte, die uns Überlebende hinterlassen haben, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie machen am Einzelschicksal deutlich, was die totale Entrechtung jeweils für einen einzelnen Menschen bedeutete. Solche Bücher müssen immer wieder neu diskutiert und weiter gegeben werden damit die Erinnerungen dieser Menschen im öffentlichen Gedächtnis nicht verblassen. Drei dieser Bücher wollen wir Ihnen heute am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus besonders empfehlen. Max Mannheimer: Drei Leben - Erinnerungen „Drei Leben“ das sind die unbeschwerte Jugend vor dem Anschluss des Sudentenlandes an das Deutsche Reich, das Überleben der Konzentrationslager Auschwitz und Dachau, und das Leben danach, das Mannheimer trotz seiner Erlebnisse tatkräftig und optimistisch gestaltete. Primo Levi: Ist das ein Mensch Der Bericht des italienischen Ausschwitz-Überlebenden wurde bereits 1947 veröffentlicht. Er gehört also zu den frühesten niedergeschriebenen Zeugnissen. Bis heute gilt er als eine der eindrucksvollsten Beschreibungen des Terrors und des Schreckens in den Konzentrationslagern. Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau – Wie ich überlebt habe Kolinka wurde aus ihrer französischen Heimat nach Auschwitz verbracht. Durch den nüchternen Stil ihrer Erzählung erfassen die Schrecken des Lageralltags mit Angst, Hunger, Dreck und Gestank die Leserinnen und Leser besonders unvermittelt. Dies sind nur drei Leseempfehlungen. Viele andere Lesenswerte Bücher bleiben ungenannt. Eine viel umfassendere Liste hat das Kulturmagazin Perlentaucher zusammengestellt, die wir Ihnen empfehlen und die Sie hier finden .

Schon über zwei Monate tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Intensiv wird in Deutschland die Frage diskutiert, wie vor diesem Hintergrund mit russischer Kultur und russischen Künstlern in Deutschland umgegangen werden soll. Wir stellen Ihnen heute einen Roman vor, der einen Blick ins oppositionelle Russland gewährt, der aber auch erahnen lässt, wieso eine wirkungsvolle Opposition gegen Wladimir Putin schon in den letzten Jahren nicht zustande kam.