Mannheim liest ein Buch 2024
18. Mai 2024
3. Auflage von "Mannheim liest ein Buch"

„Drei Kameradinnen“ von Shida Bazyar ist das Buch für die dritte Auflage von „Mannheim liest ein Buch“. Die Verantwortlichen haben sich also nach „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ von Karosh Taha (2022) und „Eine Formalie in Kiew“ von Dmitrij Kapitelman (2023) wieder für ein Buch entschieden, mit dem sie ihren Fokus auf die Themen Migration und Integration legen. In einer Stadt, in der nahezu die Hälfte der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat, ist dieser Ansatz nachvollziehbar und kann einen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis leisten. Gleichzeitig besteht vermutlich die Hoffnung, mit einem solchen Buch auch Menschen in die Diskussion einzubeziehen, die sich bisher im gesellschaftlichen Diskurs eher abseits halten.
Das Buch beginnt mit dem dramatischen, im Stil der Boulevardpresse verfassten Bericht eines Mietshausbrandes. Mehrere Personen kamen bei der Katastrophe ums Leben. Der Brandstiftung verdächtigt wird eine junge Frau mit Migrationshintergrund. Der Pressebeitrag belässt es selbstverständlich nicht beim Verdacht, sondern urteilt und verurteilt mit ganzer Kraft. Schnell läuft auch das Internet über vor Hassbotschaften. Doch war Saya wirklich die Täterin? In dem Roman folgen wir der besten Freundin der Verdächtigen durch eine lange Nacht. Kasih, so ihr Name, sitzt an ihrem Schreibtisch und schreibt die Ereignisse der Tage, die dem dramatischen Ereignis vorangingen, nieder. Sie erzählt aber auch die Geschichte einer langen Freundschaft. Seit ihren Jugendzeiten sind Saya, Kasih und Hani, die dritte im Bunde, unzertrennlich. So unterschiedlich sie oft sein mögen, sie halten zusammen. Ein verbindendes Element ist das „Anderssein“. Alle drei haben sie einen Migrationshintergrund und an vielen Stellen zeigt die Autorin auf, wie sich dies im Alltag auswirkt. Immer wieder tauchen unsichtbare Grenzen oder sichtbare Momente des „nicht Dazugehörens“ auf und daran ändern weder perfektes Deutsch noch Abitur, abgeschlossenes Studium oder feste Arbeitsstelle etwas. Wieso müssen sie beispielsweise einen Tisch in der Kneipe räumen und andere Gäste nicht? Auch zieht sich die Frage, wie Mordfälle an Migranten und die darauf folgenden Prozesse wahrgenommen werden, durch das ganze Buch. Unschwer erkennbar ist, dass hier die NSU-Morde und der anschließende große Prozess in München literarisch verarbeitet wurden. Für Leserinnen und Leser, die ganz selbstverständlich in die Mehrheitsgesellschaft aufwachsen, öffnet sich hier manch interessanter Blickwinkel. Daran ändert auch nichts, dass die Stilform der direkten Leseranrede, die Rückfrage, ob die eine oder andere Verdächtigung wirklich geglaubt wurde, manchmal doch etwas arg oberlehrerhaft wirkt.
Die 1988 in Rheinland-Pfalz geborene Shida Bazyar greift in diesem Buch sicherlich auf manch eigene Erfahrungen zurück, hat sie doch selbst einen ihren Protagonistinnen ähnlichen familiären Hintergrund. Ihre Eltern mussten ein Jahr vor ihrer Geburt die Heimat im Iran verlassen und kamen als Flüchtlinge nach Deutschland. Mit „Drei Kameradinnen“ schaffte Bazyar es 2021 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Und diese Nominierung war verdient und wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre.
Die Veranstaltungen im Zusammenhang mit „Mannheim liest ein Buch“ sollen in diesem Jahr im November gebündelt werden. Durch die Konzentration möchte man eine intensivere Wirkung erzielen. Das LeseZeichen wird sich selbstverständlich daran beteiligen. Wir werden dabei den Bogen zum großen Thema des Mannheimer Kulturherbstes schlagen, der Neuen Sachlichkeit. Die Autorinnen und Autoren rückten in den Jahren der Weimarer Republik Personen und Personengruppen in den Blickpunkt, die bis dahin in der Literatur eher als Randfiguren platziert wurden und in der Gesellschaft wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung erfuhren. Und die vor allem immer wieder auf sichtbare und unsichtbare Grenzen innerhalb der Gesellschaft stießen. Wie lässt Vicki Baum in ihrem Roman „Menschen im Hotel“ den Buchhalter Kringelein sagen: „Wenn man nicht dazugehört, dann ist es gar nicht so leicht, hineinzukommen, verstehen Sie?“ Er meinte damit den Anschluss an eine Gesellschaftsschicht, der nicht angehörte. Eine Erkenntnis, die Shida Bazyar und viele Menschen mit ähnlichem Lebensweg sicher nachvollziehen können.
„Drei Kameradinnen“ von Shida Bazyar ist erschienen bei Kiepenheuer&Witsch, 352 Seiten, 21,80 Euro (Taschenbuch 13 Euro)
„Drei Kameradinnen“ von Shida Bazyar ist erschienen bei Kiepenheuer&Witsch, 352 Seiten, 21,80 Euro (Taschenbuch 13 Euro)

In vielen Veranstaltungen wurde in den letzten Monaten an das Ende des 2. Weltkriegs vor 80 Jahren erinnert. Intensiv wurde der Verbrechen gedacht, die von unserem Land ausgehend in viele Länder gebracht wurden. Im Mittelpunkt des Gedenkens standen meist unsere direkten Nachbarvölker. Es ist eine gemeinsame Verpflichtung aller Deutschen, mitzuhelfen, dass diese Verbrechen nie vergessen werden. Genauso, wie es eine gemeinsame Aufgabe ist, an den Projekten der Aussöhnung und Verständigung beständig weiter zu arbeiten. Ich möchte heute den Blick aber noch etwas weiten und mit zwei Augenzeugenberichten auf ein Land lenken, das in diesem Krieg ebenfalls unsagbar leiden musste, dessen Kriegsschicksal bei uns aber längst nicht mehr so präsent ist. Die Rede ist von Norwegen, das im Frühjahr 1940 von der deutschen Wehrmacht überfallen wurde und nach wenigen Wochen des Kampfes besetzt wurde. Mancher Tourist wundert sich, wenn er in norwegischen Küstenstädten wie Bodø oder Molde erfährt, dass diese von der deutschen Wehrmacht komplett zerstört wurden. Was war passiert? Auskunft darüber gibt das Buch “Krieg in Norwegen” von Willy Brandt. Der spätere Bundeskanzler war bereits 1933 vor der nationalsozialistischen Verfolgung der Sozialdemokraten und Sozialisten nach Norwegen geflohen. Als die Deutschen 1940 das Land seines Exils eroberten, führte ihn seine weitere Flucht ins neutrale Schweden. Dort veröffentlichte er dieses Buch, mit dem er eine zusammenhängende Übersicht der Ereignisse gibt, die mit dem deutschen Blitzüberfall am 9. April 1940 begannen. Bereits 1942 erschien das Buch in der Schweiz in deutscher Übersetzung. Tag für Tag und Ort für Ort zeichnet Brandt den rund zwei Monate dauernden Krieg nach. Angriff nach Angriff und Abwehrschlacht auf Abwehrschlacht ist festgehalten. Dies wirkt auf den Leser und die Leserin, die Norwegen nicht oder nur wenig kennen, vielleicht etwas monoton. Aber er gibt einen guten Einblick, mit welcher Brutalität dieser Krieg in dieses Land gebracht wurde. An dieser Stelle ist die autobiographische Erzählung “Rückkehr in die Zukunft” der norwegischen Literaturnobelpreisträgerin Sigrid Undset eine hervorragende Weiterführung. Es schildert die Flucht der überzeugten und sich öffentlich bekennenden Nazi-Gegnerin aus Norwegen über Schweden, Russland und Japan in die USA. Vor allem beschreibt sie aber, wie dieser Krieg über ein Land hereinbrach, das fest an eine regelbasierte Welt glaubte, das fest davon überzeugt war, dass ein Land, das selbst auf den Frieden ausgerichtet ist, respektiert werde. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat dieser Aspekt von Undsets Schrift eine neue und beängstigende Aktualität erhalten. Beide Bücher wurden noch während des Krieges geschrieben und veröffentlicht. Dies bedeutet, dass noch nicht alle Informationen verfügbar waren. Vor allem bedeutet dies aber, dass das Ende noch offen war. Bei Undset beeindruckt, wie sie schon 1942 davon überzeugt war, dass nach Kriegsende eine gute Zukunft nur in der Zusammenarbeit der Völker erreicht werden könne und in diese künftige europäische Ordnung auch Deutschland (sofern es besiegt werde) einbezogen werden müsse. Dass diese Einbeziehung nicht nur aus idealistischen Motiven gewollt wurde, liegt auf der Hand. Ganz offen spricht sie von einer “Zähmung der deutschen Mentalität”. Dass das Urteil über die Deutschen nach einem solchen Überfall nicht positiv und recht emotional war, lässt sich nachvollziehen. Umso beeindruckender wirkt die Entwicklung, die nach 1945 eingetreten ist. Dem Europa Verlag in München und dem Stuttgarter Alfred Kröner Verlag ist es zu verdanken, dass die beiden Bücher neu aufgelegt wurden. Undsets Werk ist sogar erstmals in deutscher Sprache erschienen. Bei Willy Brandt sei noch angemerkt, dass er es in einer Fremdsprache geschrieben hat, aus der es dann ins Deutsche übersetzt wurde. Dies erklärt, dass seine Sprache in diesem Buch etwas steifer ist, als wir es aus anderen seiner Texte kennen. “Krieg in Norwegen” von Willy Brandt ist erschienen im Europa Verlag, 200 Seiten, 15 Euro. “ Rückkehr in die Zukunft” von Sigrid Undset ist erschienen im Alfred Kröner Verlag, 280 Seiten, 25 Euro

Am 27. Januar 2025 jährt sich zum 80igsten Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Seit 1996 wird dieser Tag in Deutschland als offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In einer Zeit, in der Dinge, die jahrzehntelang als unsagbar galten, plötzlich wieder ungeniert verbreitet werden, in einer Zeit, in der wieder die Entrechtung von Menschen gefordert wird, ist so ein Gedenktag wichtiger und notwendiger denn je. Dabei kommt den Stimmen der Überlebenden eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten und müssen uns Mahnung für unser Handeln sein. Achtzig Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorsystems wird die Zahl der Zeitzeugen leider von Jahr zu Jahr geringer. Immer weniger Menschen können den nachfolgenden Generationen aus eigener Erfahrung von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft berichten. Immer seltener werden damit die Stimmen, die aus eigenem Erleben berichten können, zu welchen Exzessen totalitäre Systeme führen können und was es bedeutet, wenn die Bewahrung der Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Religion nicht mehr oberste Maxime eines Staates ist. Umso wichtiger ist es, dass die Texte, die uns Überlebende hinterlassen haben, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie machen am Einzelschicksal deutlich, was die totale Entrechtung jeweils für einen einzelnen Menschen bedeutete. Solche Bücher müssen immer wieder neu diskutiert und weiter gegeben werden damit die Erinnerungen dieser Menschen im öffentlichen Gedächtnis nicht verblassen. Drei dieser Bücher wollen wir Ihnen heute am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus besonders empfehlen. Max Mannheimer: Drei Leben - Erinnerungen „Drei Leben“ das sind die unbeschwerte Jugend vor dem Anschluss des Sudentenlandes an das Deutsche Reich, das Überleben der Konzentrationslager Auschwitz und Dachau, und das Leben danach, das Mannheimer trotz seiner Erlebnisse tatkräftig und optimistisch gestaltete. Primo Levi: Ist das ein Mensch Der Bericht des italienischen Ausschwitz-Überlebenden wurde bereits 1947 veröffentlicht. Er gehört also zu den frühesten niedergeschriebenen Zeugnissen. Bis heute gilt er als eine der eindrucksvollsten Beschreibungen des Terrors und des Schreckens in den Konzentrationslagern. Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau – Wie ich überlebt habe Kolinka wurde aus ihrer französischen Heimat nach Auschwitz verbracht. Durch den nüchternen Stil ihrer Erzählung erfassen die Schrecken des Lageralltags mit Angst, Hunger, Dreck und Gestank die Leserinnen und Leser besonders unvermittelt. Dies sind nur drei Leseempfehlungen. Viele andere Lesenswerte Bücher bleiben ungenannt. Eine viel umfassendere Liste hat das Kulturmagazin Perlentaucher zusammengestellt, die wir Ihnen empfehlen und die Sie hier finden .

Schon über zwei Monate tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Intensiv wird in Deutschland die Frage diskutiert, wie vor diesem Hintergrund mit russischer Kultur und russischen Künstlern in Deutschland umgegangen werden soll. Wir stellen Ihnen heute einen Roman vor, der einen Blick ins oppositionelle Russland gewährt, der aber auch erahnen lässt, wieso eine wirkungsvolle Opposition gegen Wladimir Putin schon in den letzten Jahren nicht zustande kam.