Lissabon

 

20. Station:  - Ein Epos und viele Romane - Lissabon/Portugal
20. September 2020

Größe und Pracht überfordern unser Auge beinahe. Wir betreten die  Kirche Santa Maria de Bélem des Hieronymiten-Klosters am Rande der portugiesischen Hauptstadt Lissabon und die Worte des Schriftstellers Fernando Pessoa erfüllen sich für uns mit Leben: „Ein Besuch des Jerónimos muss ein ausgedehnter sein, sonst lohnt er sich nicht. Alle Schönheiten sollten ausführlich gewürdigt werden, die Ausarbeitung all der winzigen Details, die Bilder, die Grabmale, die Säulen. Die Gewölbe, vor allem die des Querschiffs, das von keiner Säule gestützt wird, die Tafelgemälde, der Chor, von wo aus der größte Teil des Innenraums überblickt werden kann, der Kreuzgang, der einer der schönsten der Welt ist….“. In der Tat ist es der reiche Schmuck und die vielfältige Ornamentik, die dieser Kirche ihren besonderen Charakter geben. Hinzu kommen die beinahe filigranen Säulen, die die drei Kirchenschiffe trennen und das kunstvoll verzierte Netzgewölbe tragen. Doch so leicht der Bau wirkt, so stabil ist die Statik ausgelegt. Sie widerstand sogar dem großen Erdbeben, das am 1. November 1755 die Altstadt Lissabons in ein Trümmerfeld unvorstellbaren Ausmaßes verwandelte und bis weit ins Umland hinaus immense Schäden anrichtete. Umso wertvoller ist dieses kulturelle Erbe in heutiger Zeit.

Es hat seinen Grund, dass dieser Klosterbau, an dem über siebzig Jahre gearbeitet wurde, so aufwändig ausgeführt und gestaltet wurde. Er steht nämlich an einer ganz besonderen Stelle. Wo sich heute die imposante Kirche, der zweistöckige Kreuzgang mit Refektorium, der fein geschnittene Kapitelsaal und die beinahe intime Sakristei sowie der fast 200 Meter lange Westflügel erheben, stand im 15. Jahrhundert nur eine bescheidene Herberge für Seefahrer.
In der kleinen Kapelle daneben beteten sie, bevor sie in See stachen. Auch für den portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama war dies 1497 der Ausgangspunkt seiner Expedition, bei der es ihm gelang, den um die Südspitze Afrikas führenden Seeweg nach Indien zu entdecken. Zwei Jahre später kehrte er mit seiner kleine Flotte als gefeierter Held und reich beladen mit kostbaren Gewürzen nach Lissabon zurück. König Manuel I. gab den Auftrag zum Bau eines prächtigen Klosters an der Stelle, die Ausgangspunkt für diese Reise und in der Folge für den Aufstieg Portugals zur führenden Handels- und Seemacht war. Die fünf bedeutendsten Architekten ihrer Zeit arbeiteten hier neben- und nacheinander und es entstand das monumentale Gesamtensemble, das seit vielen Jahren in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes eingetragen ist.

Endgültig zur nationalen Gedenkstätte wurde das Mosteiro dos Jerónimos (Hieronymitenkloster) Ende des 19. Jahrhunderts, als begonnen wurde, bedeutenden Portugiesen hier in unmittelbarer Nähe von fünf an diesem Ort bestatteten portugiesischen Königen, allen voran Manuel I., eine ehrenvolle Grabstätte zu geben. Das Kloster wurde zum Pantheon der portugiesischen Großen. Gleich am Eingang der Kirche stößt man auf den prächtigen Sarg Vasco da Gamas. Nicht weniger groß erhebt sich ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Eingangs, das Grabmal des Dichters  Luís Vaz de Camões. Schon diese Positionierung, direkt neben dem portugiesischen Nationalhelden und nur wenige Meter von den Grabstätten der Könige entfernt, zeigt die große Verehrung, die Camões entgegengebracht wird.

 Dabei war der Weg zum unsterblichen Poeten für ihn nicht vorgezeichnet und der Lebensweg hielt für ihn viele Wendungen und Herausforderungen bereit. Aus verarmtem Adelsgeschlecht stammend, gelang ihm trotzdem der Zugang zur Universität, die er aber ohne Abschluss verlies. Seine Karriere als Erzieher von Höflingen am Königshof endete abrupt, angeblich in der Folge irgend einer Liebesgeschichte. Jahre als Söldner führten ihn nach Afrika und Indien. Schulden machten ihm das Leben schwer und ein Schiffbruch brachten ihn um seine letzte Habe.

Trotz diesen unwirtlichen Lebensumständen gelang es Camões in diesen Jahren ein Epos zu schreiben, das er 1572, zwei Jahre nach seiner Rückkehr nach Lissabon, veröffentlichen konnte. Ein Werk, das ihm seinen dauerhaften Platz in der europäischen Literaturgeschichte sichern sollte: „Die Luisaden“, in der Originalsprache „Os Lusíadas“. Wie so viele Dichter lehnt er sich in Stil und Aufbau  an die großen Epen Odyssee und Aeneis von Homer und Virgil an und verbindet Rückgriffe auf die griechische und römische Mythologie mit Schilderungen aus der portugiesischen Geschichte. Von der Seereise des Odysseus ist es nicht weit zur Entdeckungsfahrt des Vasco da Gama, auch wenn Zweitere sicherlich nicht als Irrfahrt bezeichnet werden kann. Die zentrale Rolle, die Camões dem großen Schiffführer einräumt, wird durch einen Kunstgriff in der Dichtung unterstrichen. Entscheidende Momente und Legenden der portugiesischen Geschichte werden in Form eines Gesprächs Vasco da Gamas mit dem König von Indien berichtet. Der Seemann wird so zum Erzähler der Vergangenheit seiner Heimat.

Luís Vaz de Camões schuf mit seinen „Luisaden“ ein maßgebendes Werk der Renaissance, das weit in die europäische Geisteswelt hinein ausstrahlte. Voltaire, Hegel, Goethe, Pope und Schlegel, um nur einige wenige zu nennen, befassten sich damit. Und gleichzeitig entstand ein Nationalepos für Portugal, das sich aus den gleichen Quellen speist, wie die Epen zahlreicher anderer europäischer Länder. Die wohl schönste Würdigung der „Luisaden“ mit ihren wundervollen Natur- und Meeresbildern stammt wohl von dem großen Forschungsreisenden Alexander von Humboldt. Er bezeichnete ihren Autor als einen „Seemaler“.

Fernando Pessoa hat in seinem kleinen Büchlein „Mein Lissabon – was der Reisende sehen sollte“, dem die eingangs zitierte Beschreibung des Klosters entnommen ist, die Grabmäler von Vasco da Gama und Luís de Camões übrigens nicht unerwähnt gelassen. Sicher nicht vorstellen konnte er sich zum Zeitpunkt, als er seine Beobachtungen niederschrieb, dass er selbst auch hier einmal seine letzte Ruhe finden würde. Denn Fernando Pessoa, der heute als einer der bedeutendsten Schriftsteller Portugals und ein wichtiger Vertreter der europäischen Moderne gilt, war zu Lebzeiten weitgehend unbekannt. Die meisten seiner von Nachdenklichkeit und Melancholie geprägten Werke wurden erst nach seinem  frühen Tod 1935 im Alter von 47 Jahren veröffentlicht.

In seinem Nachlass befand sich eine Truhe mit 28.000 unveröffentlichten Manuskriptseiten. Interessant an den Gedichten und Romanen sowie politischen und soziologischen Schriften ist die Zuordnung zu unterschiedlichen Autoren. Pessoa schrieb unter ganz verschiedenen Namen. Zweiundsiebzig unterschiedliche zählte Richard Zenith, der englische Übersetzer der Schiften des Lissaboner Autors. Dabei blieb Pessoa nicht beim einfachen Pseudonym. Um diesen erfundenen Namen herum entwickelte er oft eine komplette Biografie und so entstanden Heteronyme, also Autorenpersönlichkeiten mit eigenem Lebenslauf, eigenem Schreibstil, bevorzugten Themen und eigenständigen philosophischen Ausrichtungen. Die fiktiven Werke stammten somit von einem fiktiven Autor der wiederum über eine fiktive Biographie verfügte. Mehr Fiktion geht eigentlich nicht. Die drei wichtigsten Heteronyme sind Alberto Caeiro, der auf einem Landgut lebende Autor, Álvaro de Campos, der in Glasgow zum Schiffbauingenieur ausgebildet wurde, und Ricardo Reis, der nach dem Ende der portugiesischen Monarchie nach Brasilien auswanderte. Besonders interessant wird es, wenn sich die verschieden Autoren dann in einem Werk begegnen, beispielsweise in dem Gedichtzyklus „Der Hüter der Herden“. Es ist nicht verwunderlich, dass Pessoa mit seinem Werk gerne mit dem Tschechen Franz Kafka in Zusammenhang gebracht wird.

Mit seinem Roman „Ano da Morte de Ricardo Reis“ (dt. Das Todesjahr des Ricardo Reis) führte José Saramango, der große portugiesische Romancier der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, das Personengewirr Pessoas zur Perfektion. In diesem Buch lässt er Reis, der in Brasilien vom Tode Pessoas erfahren hat, nach Lissabon zurückkehren, wo er in einem Hotel plötzlich dem eigentlich schon verstorbenen Pessoa begegnet, dem das Schicksal nochmals etwas Zeit zugestanden hat. Diese Begegnung spielt sich vor dem Hintergrund von spanischem Bürgerkrieg und Hitlers Machtergreifung in Deutschland ab. Auch eine Liebesgeschichte darf nicht fehlen. Der Roman entfaltet eine Dichte und Fülle, wie sie für Saramango typisch ist. Historische und politische Ereignisse werden eingebunden und eng mit den Erlebnissen und Gedanken seiner Protagonisten verbunden. 1998 wurde diese Art zu Schreiben mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Eine Ehre, die Pessoa auch deswegen verwehrt blieb, da dieser Preis nur an lebende Autoren vergeben wird. Ein Jahr, nachdem José Saramango das große literarische Denkmal für Pessoa veröffentlichte, wurde diesem aber eine andere und für Portugal mindestens gleichbedeutende Ehre zu Teil: Sein Leichnam wurde 1985, also genau 50 Jahre nach seinem Tod, in ein Ehrengrab im Kreuzgang des Hieronymitenklosters in Bélem umgebettet. Nur wenige Meter ruht er nun von den großen Helden Vasco da Gama und Luís de Camões entfernt.


Wir verlassen das Kloster in dem Lissaboner Vorort Bélem jetzt jedoch und begeben uns entlang der Tejo-Mündung in die Altstadtviertel Chiado und Baixa, in denen Pessoa weite Teile seines Lebens verbracht hat. Wie Rom ist die Stadt Lissabon auf sieben Hügeln erbaut, was zu großen und teilweise abrupten Höhenunterschieden führt. Zwischen den Vierteln Chiado und Baxia wird dieser unter anderem mit dem markanten Elevador de Santa Justa ausgeglichen, einem freistehenden Personenaufzug aus dem Jahr 1902. Der Aufzug ist 45 m hoch und eine Fahrt in einer der beiden noch original erhaltenen, mit Holz dekorierten und mit Glasscheiben und Messingbeschlägen ausgestattete Kabinen ist beinahe Pflicht bei einem Besuch in der portugiesischen Hauptstadt. Von dem Café im Stockwerk über dem oberen Ausgang genießt man einen herrlichen Blick über die Altstadt hinaus auf das offene Meer.


Verschiedene Spaziergänge laden dazu ein, in der Lissaboner Altstadt den Spuren Pessoas zu folgen. Am Lago de São Carlos, gegenüber dem Opernhaus, ist sein Geburtshaus zu finden. Mehrere Cafés, die der Autor gerne und häufig besucht hat, liegen am Weg. Und natürlich darf die Rua dos Douradores nicht ausgelassen werden. Über sie lässt Pessoa in seinem „Buch der Unruhe“ den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, der viel mit seinem Schöpfer gemein hat, sagen: „Wenn ich die Welt in der Hand hätte, würde ich sie, dessen bin ich sicher, gegen eine Fahrkarte zur Rua dos Douradores eintauschen.“



In seinem kleinen Büchlein über Lissabon beschreibt Pessoa auch die zahlreichen Denkmale, die in seiner Heimatstadt die Straßen und Plätze verschönern. Mit Freude am Detail beschreibt er, wem sie gewidmet sind, wann sie aufgestellt wurden und wer sie gestaltet hat. Mitten in seinem vertrauten Gebiet, das wir gerade durchstreifen, erhebt sich das gewaltige Monument mit der bronzenen Figur des Nationaldichters Luis Camōes. Nicht weit davon entfernt entdecken wir einen weiteren Großen der portugiesischen Literatur, der zu seinen Lebzeiten auch einige Jahre in dieser Gegend unterwegs war. Gemeinsam mit einer ihn hingebungsvoll anblickenden Frau wächst der Romancier José Maria Eça de Queiroz aus einem dunklen Marmorblock heraus, der die Inschrift trägt: „Über die nackte Kraft der Wahrheit den durchscheinenden Mantel der Phantasie.“ Da die Dame entsprechend gekleidet ist, erübrigen sich weitere Nachforschungen zu ihrer Identität. Und die Aussage des Denkmals trifft die Arbeitsweise des Schriftstellers gut. In seinen Büchern erzählt er nicht nur schöne Geschichten. Er gibt auch ein plastisches Bild der Gesellschaft seiner Zeit. Vergleiche mit Fontane, di Lampedusa, Flaubert oder Zola liegen auf der Hand. Und tatsächlich wurde Eça de Quiroz schon früh als Émile Zola Portugals bezeichnet.



Weltruhm erreichte er 1878 mit O primo Basílio (deutsch: Vetter Basilio), einer der großen Erzählungen von Verführung und Ehebruch des 19. Jahrhunderts. Zufällig erschien sie im gleichen Jahr wie Leo Tolstois „Anna Karenina“. Kein Zufall ist, dass die beiden Werke oft verglichen und gerne auf eine Ebene gestellt werden. Teile des Romans spielen genau in dem Stadtviertel, in dem wir uns gerade bewegen. Hier besuchten die Helden seiner Geschichte die Oper, an der wir gerade vorbeischlendern, und hier speisten sie in Restaurants, die es heute noch gibt.



Nur wenige Schritte von den Denkmälern der beiden großen portugiesischen Literaten entfernt wurde vor einigen Jahren ein drittes Kunstwerk enthüllt. Fernando Pessoa konnte es in seinem Buch noch nicht erwähnen. Denn es ist ihm gewidmet. Und es wurde so gestaltet, wie ihn die Menschen in Lissabon, die ihn persönlich kannten, wohl wahrgenommen haben und in Erinnerung behalten: in Bronze gegossen sitzt er vor dem Café Basileria. Hier hat er gesessen, getrunken, sich inspirieren lassen und geschrieben. Tun wir’s im gleich, setzen wir uns und trinken einen portugiesischen Kaffee und machen eine kleine Pause.



Frisch gestärkt brechen wir dann zur letzten Station unserer Reise auf: wir nehmen die weltberühmte gelbe Straßenbahn. Bilder, wie sie die steilen Hügel Lissabons erklimmt und sich durch enge Gassen schlängelt, dürfen in keinem Bericht über Lissabon fehlen. Nach wenigen Stationen erreichen wir am Campo de Ourique die Casa Fernando Pessoa. In der Wohnung, in der der Dichter die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens verbracht hat, wurden ein Museum und ein kleines Kulturzentrum errichtet. Mancher Einblick in das Leben des Dichter öffnet sich hier. Aber ganz erschließen wird sich diese geheimnisvolle Persönlichkeit nie. Oder waren wir gar auf der Spur von Alberto Caeiro? Oder war es Álvaro de Campos? Oder doch Ricardo Reis?



Einen schönen Blick auf das Werk Fernando Pessoas bekommt man in diesem Video: Die Schauspielerin Maria de Medeiros liest sein Gedicht „Alle Liebesbriefe sind lächerlich“ in drei Sprachen.

Maria de Medeiros liest Pessoa.

Und hier können Sie zu einer Stadtrundfahrt durch Lissabon starten.

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