Dafuq - ein Blick ins oppositionelle Russland

25. April 2022

Ein Roman von Ira Jarmysch der nachdenklich macht.

Schon über zwei Monate tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Intensiv wird in Deutschland die Frage diskutiert, wie vor diesem Hintergrund mit russischer Kultur und russischen Künstlern in Deutschland umgegangen werden soll. Wir stellen Ihnen heute einen Roman vor, der einen Blick ins oppositionelle Russland gewährt, der aber auch erahnen lässt, wieso eine wirkungsvolle Opposition gegen Wladimir Putin schon in den letzten Jahren nicht zustande kam. Und uns erinnert der Roman von Kira Jarmysch daran, dass ein Entsetzen über eine politische Führung und staatliche Handlungen nie auf alle Angehörigen einer Nation übertragen werden darf. Vor zwei Generationen sicherte diese Erkenntnis manchem oppositionellen Deutschen sein Überleben. Mit dieser Überlegung sind wir nahe bei einem Autor, den wir im Juli LeseZeichen begrüßen dürfen: Frido Mann. Er wurde 1940 in Kalifornien geboren, wohin sein Großvater Thomas Mann in den Jahren des Dritten Reichs mit Teilen seiner Familie geflohen war.

Anja Romanowa, gerade fertig mit dem Studium an einer angesehenen Moskauer Hochschule, nimmt an einer Demonstration gegen die Regierung und gegen Korruption teil und wandert für zehn Tage in den Arrest, eine Strafform, die wir in Deutschland nicht kennen und die in Russland vor allem für einfache Ordnungswidrigkeiten verhängt wird. Ihre Zelle teilt sie mit fünf anderen jungen Frauen: Da ist Maja, die in «Brust- und Po-Tuning» investiert, um reichen Männern zu gefallen und ohne gültigen Führerschein Auto gefahren ist, Natascha, die das echte Straflager kennt, oder Irka, die die Alimente für ihre Tochter nicht gezahlt hat. Sechs Leben prallen aufeinander, explosiv und oft sehr komisch, in denen sich das heutige Russland spiegelt: Armut und Reichtum, Freiheitsgeist und Putin-Gläubigkeit, traditionelle Rollen und Aufbruch in die Moderne. Die Willkür und Repression des Systems werden deutlich und manche Stelle lässt die Leserinnen und Leser fassungslos zurück. Beispielsweise, wenn ein junger Polizist in einem kurzen, eigentlich nicht vorgesehenen Gespräch mit der Inhaftierten zur erkennen gibt, dass er die Korruption und das ganze System auch satt habe und sich vielleicht auch den Demonstrationen anschließen möchte. Seine Schlussfolgerung schockiert Anja dann aber: „Wir brauchen eine neue Ordnung im Land.“ – „In Russland gab es nur einen einzigen normalen Herrscher. Unter ihm herrschte Ordnung.“ – „Nämlich?“ – „Stalin“.
Wie viel Autobiographie der Roman enthält, darüber kann spekuliert werden. Manche Parallele des Lebenswegs der Autorin und ihrer Protagonistin drängt sich geradezu auf. Allerdings ging der Weg von Kira Jarmysch weit über den ihrer Romanfigur hinaus: seit 2014 arbeitet sie als Sprecherin von Alexej Nawalny, dem prominentesten Oppositionspolitiker Russlands. Dieser wurde auf Basis abstruser Vorwürfe zu einer mehrjährigen Lagerhaft verurteilt und Jarmysch befindet sich wohl an einem unbekannten Ort im Ausland. In Russland wurde sie kurz nach dem Überfall auf die Ukraine zur Fahndung ausgeschrieben. Wer die zahlreichen Verhaftungen bei den wenigen noch gewagten Demonstrationen in Russland in den letzten Wochen beobachtet hat, kann sich vorstellen, wie sich der Bewegungsspielraum auch für Personen mit dem Profil der Romanfigur Anja in den letzten Wochen noch weiter eingeschränkt hat.

Die Bedeutung des Romans zum Zeitpunkt seines deutschen Erscheinens im September 2021 fasste Jarmyschs Schriftstellerkollegin Lena Gorelik so zusammen: „Dieser Roman offenbart nebenbei so vieles, was man über das heutige Russland weiß und nicht weiß, weil er so politisch ist, ohne belehrend sein zu wollen, im besten Sinn des Wortes aus dem Leben. Und man außerdem richtig laut lachen muss.“ In Russland konnte das Werk in einem oppositionellen Verlag noch erscheinen. Laut Information der Süddeutschen Zeitung wird derzeit geprüft, ob es Propaganda für Suizid, Drogen oder Homosexualität enthält. Alles Themen, die im Buch vorkommen. Und wer die Situation in Russland auch nur ansatzweise kennt, geht davon aus, dass es demnächst auf der Liste der verbotenen Bücher steht.
„Dafuq“ von Kira Jarmysch erschienen im Rowohlt-Verlag, 407 Seiten, 22,-- Euro.
20. Juli 2025
In vielen Veranstaltungen wurde in den letzten Monaten an das Ende des 2. Weltkriegs vor 80 Jahren erinnert. Intensiv wurde der Verbrechen gedacht, die von unserem Land ausgehend in viele Länder gebracht wurden. Im Mittelpunkt des Gedenkens standen meist unsere direkten Nachbarvölker. Es ist eine gemeinsame Verpflichtung aller Deutschen, mitzuhelfen, dass diese Verbrechen nie vergessen werden. Genauso, wie es eine gemeinsame Aufgabe ist, an den Projekten der Aussöhnung und Verständigung beständig weiter zu arbeiten. Ich möchte heute den Blick aber noch etwas weiten und mit zwei Augenzeugenberichten auf ein Land lenken, das in diesem Krieg ebenfalls unsagbar leiden musste, dessen Kriegsschicksal bei uns aber längst nicht mehr so präsent ist. Die Rede ist von Norwegen, das im Frühjahr 1940 von der deutschen Wehrmacht überfallen wurde und nach wenigen Wochen des Kampfes besetzt wurde. Mancher Tourist wundert sich, wenn er in norwegischen Küstenstädten wie Bodø oder Molde erfährt, dass diese von der deutschen Wehrmacht komplett zerstört wurden. Was war passiert? Auskunft darüber gibt das Buch “Krieg in Norwegen” von Willy Brandt. Der spätere Bundeskanzler war bereits 1933 vor der nationalsozialistischen Verfolgung der Sozialdemokraten und Sozialisten nach Norwegen geflohen. Als die Deutschen 1940 das Land seines Exils eroberten, führte ihn seine weitere Flucht ins neutrale Schweden. Dort veröffentlichte er dieses Buch, mit dem er eine zusammenhängende Übersicht der Ereignisse gibt, die mit dem deutschen Blitzüberfall am 9. April 1940 begannen. Bereits 1942 erschien das Buch in der Schweiz in deutscher Übersetzung. Tag für Tag und Ort für Ort zeichnet Brandt den rund zwei Monate dauernden Krieg nach. Angriff nach Angriff und Abwehrschlacht auf Abwehrschlacht ist festgehalten. Dies wirkt auf den Leser und die Leserin, die Norwegen nicht oder nur wenig kennen, vielleicht etwas monoton. Aber er gibt einen guten Einblick, mit welcher Brutalität dieser Krieg in dieses Land gebracht wurde. An dieser Stelle ist die autobiographische Erzählung “Rückkehr in die Zukunft” der norwegischen Literaturnobelpreisträgerin Sigrid Undset eine hervorragende Weiterführung. Es schildert die Flucht der überzeugten und sich öffentlich bekennenden Nazi-Gegnerin aus Norwegen über Schweden, Russland und Japan in die USA. Vor allem beschreibt sie aber, wie dieser Krieg über ein Land hereinbrach, das fest an eine regelbasierte Welt glaubte, das fest davon überzeugt war, dass ein Land, das selbst auf den Frieden ausgerichtet ist, respektiert werde. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat dieser Aspekt von Undsets Schrift eine neue und beängstigende Aktualität erhalten. Beide Bücher wurden noch während des Krieges geschrieben und veröffentlicht. Dies bedeutet, dass noch nicht alle Informationen verfügbar waren. Vor allem bedeutet dies aber, dass das Ende noch offen war. Bei Undset beeindruckt, wie sie schon 1942 davon überzeugt war, dass nach Kriegsende eine gute Zukunft nur in der Zusammenarbeit der Völker erreicht werden könne und in diese künftige europäische Ordnung auch Deutschland (sofern es besiegt werde) einbezogen werden müsse. Dass diese Einbeziehung nicht nur aus idealistischen Motiven gewollt wurde, liegt auf der Hand. Ganz offen spricht sie von einer “Zähmung der deutschen Mentalität”. Dass das Urteil über die Deutschen nach einem solchen Überfall nicht positiv und recht emotional war, lässt sich nachvollziehen. Umso beeindruckender wirkt die Entwicklung, die nach 1945 eingetreten ist. Dem Europa Verlag in München und dem Stuttgarter Alfred Kröner Verlag ist es zu verdanken, dass die beiden Bücher neu aufgelegt wurden. Undsets Werk ist sogar erstmals in deutscher Sprache erschienen. Bei Willy Brandt sei noch angemerkt, dass er es in einer Fremdsprache geschrieben hat, aus der es dann ins Deutsche übersetzt wurde. Dies erklärt, dass seine Sprache in diesem Buch etwas steifer ist, als wir es aus anderen seiner Texte kennen. “Krieg in Norwegen” von Willy Brandt ist erschienen im Europa Verlag, 200 Seiten, 15 Euro. “ Rückkehr in die Zukunft” von Sigrid Undset ist erschienen im Alfred Kröner Verlag, 280 Seiten, 25 Euro
von Raimund Gründler 26. Januar 2025
Am 27. Januar 2025 jährt sich zum 80igsten Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Seit 1996 wird dieser Tag in Deutschland als offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In einer Zeit, in der Dinge, die jahrzehntelang als unsagbar galten, plötzlich wieder ungeniert verbreitet werden, in einer Zeit, in der wieder die Entrechtung von Menschen gefordert wird, ist so ein Gedenktag wichtiger und notwendiger denn je. Dabei kommt den Stimmen der Überlebenden eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten und müssen uns Mahnung für unser Handeln sein. Achtzig Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorsystems wird die Zahl der Zeitzeugen leider von Jahr zu Jahr geringer. Immer weniger Menschen können den nachfolgenden Generationen aus eigener Erfahrung von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft berichten. Immer seltener werden damit die Stimmen, die aus eigenem Erleben berichten können, zu welchen Exzessen totalitäre Systeme führen können und was es bedeutet, wenn die Bewahrung der Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Religion nicht mehr oberste Maxime eines Staates ist. Umso wichtiger ist es, dass die Texte, die uns Überlebende hinterlassen haben, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie machen am Einzelschicksal deutlich, was die totale Entrechtung jeweils für einen einzelnen Menschen bedeutete. Solche Bücher müssen immer wieder neu diskutiert und weiter gegeben werden damit die Erinnerungen dieser Menschen im öffentlichen Gedächtnis nicht verblassen. Drei dieser Bücher wollen wir Ihnen heute am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus besonders empfehlen. Max Mannheimer: Drei Leben - Erinnerungen „Drei Leben“ das sind die unbeschwerte Jugend vor dem Anschluss des Sudentenlandes an das Deutsche Reich, das Überleben der Konzentrationslager Auschwitz und Dachau, und das Leben danach, das Mannheimer trotz seiner Erlebnisse tatkräftig und optimistisch gestaltete. Primo Levi: Ist das ein Mensch Der Bericht des italienischen Ausschwitz-Überlebenden wurde bereits 1947 veröffentlicht. Er gehört also zu den frühesten niedergeschriebenen Zeugnissen. Bis heute gilt er als eine der eindrucksvollsten Beschreibungen des Terrors und des Schreckens in den Konzentrationslagern. Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau – Wie ich überlebt habe Kolinka wurde aus ihrer französischen Heimat nach Auschwitz verbracht. Durch den nüchternen Stil ihrer Erzählung erfassen die Schrecken des Lageralltags mit Angst, Hunger, Dreck und Gestank die Leserinnen und Leser besonders unvermittelt. Dies sind nur drei Leseempfehlungen. Viele andere Lesenswerte Bücher bleiben ungenannt. Eine viel umfassendere Liste hat das Kulturmagazin Perlentaucher zusammengestellt, die wir Ihnen empfehlen und die Sie hier finden .
von Raimund Gründler 9. Oktober 2024
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Die Banlieues von Paris - Soziale Brennpunkte und Austragungsort olympischerWettkämpfe. Anne Weber führt uns auf zahlreichen Spaziergängen durch diese widersprüchliche Welt.
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von Raimund Gründler 2. August 2022
Mannheim liest "Beschreibung einer Krabbenwanderung". Das ist ein Buch, das hervorragend zu Mannheim passt.
von Raimund Gründler 22. Mai 2022
Mit "Kein Haus aus Sand" legt Anja Kampmann ein beeindruckendes Hörspiel vor, das mit Stimmen der Vergangenheit die aktuelle Situation in Europa reflektiert.