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2 Jahre Pandemie - Blick auf die Literaturveranstaltungen

Raimund Gründler • Jan. 28, 2022

Streaming als dauerhaftes Element des Literaturbetriebs?

Auch das LeseZeichen streamte Veranstaltungen.

 Ziemlich genau zwei Jahre ist es her, dass der erste Coronafall in Deutschland bestätigt wurde. Hätte zu diesem Zeitpunkt jemand die Ereignisse der darauf folgenden Monate prognostiziert, würde man ihm oder ihr vermutlich eine blühende Phantasie bescheinigt und eine rosige Zukunft als neuer Star der Science-Fiction-Szene vorausgesagt haben. Als reale Zukunftsperspektive wären die Gedanken wohl nicht durchgegangen.
Veränderungen und Einschränkungen, wie sie dann recht schnell notwendig wurden, lagen vor zwei Jahren außerhalb aller realistischen Vorstellungen. Vieles, was wenige Tage zuvor noch selbstverständlich war, wurde unmöglich. Vom gemeinsamen Abendessen mit Freunden über den Einkaufsbummel und Kurzurlaub bis hin zum Theaterbesuch. Rückzug, Abschottung und Selbstisolation hießen die Gebote der Stunde. Alles Verhaltensweisen, die ein übliches soziales Leben unmöglich machen – und ebenso das kulturelle - sieht man einmal von der einsam in ihrer Schreibstube um einen Wortfluss kämpfenden Autorin und dem in einer ruhigen Ecke vor sich hinschmökernden Leser ab. Und selbst da gab es viele, die die stimulierende Atmosphäre eines Kaffeehauses vermissten. Diese Einrichtung als Ort der Kreativität scheint doch mehr als ein Klischee zu sein.

Erfreulicherweise wurde aber nicht nur Wegfallendes beklagt. Gerade im Kulturleben entstanden rasch neue Formate und Angebote. Ein kleines Beispiel dafür ist unsere Literaturinitiative LeseZeichen. Als die klassischen Veranstaltungen, die bis dahin die Arbeit überwiegend prägten, wegfielen, wurden Alternativen gesucht und gefunden. Der regelmäßige Newsletter ist ein Ergebnis dieser Suche. Ursprünglich gedacht, um den Kontakt zum Stammpublikum zu halten, hat er sich zu einem eigenständigen Element im Programm entwickelt. Alle vierzehn Tage werden Informationen rund um die Welt der Literatur an die beständig wachsende Leserschar verschickt. Auch wenn ein Schwerpunkt der Nachrichten in Mannheim und der Rhein-Neckar-Region liegt, wächst die Zahl der Abonnenten auch überregional kontinuierlich.
Ebenso waren Veranstaltungen unter freiem Himmel und Übertragungen von Lesungen ins Internet Neuland für das LeseZeichen. Wer die Lesung mit Wolfgang Bunzel zu Bettine von Arnim oder den Abend mit Marion Tauschwitz im Gedenken an Hilde Domin im Zeughausgarten der Reiss-Engelhorn-Museen erlebte, hätte sich keinen passenderen Ort für diese Abende vorstellen können. Die Sommerbühne hinter dem Museum war aber nur entstanden, um Kulturveranstaltern eine aerosolensichere Veranstaltungsmöglichkeit in den Sommermonaten zu bieten. Dem Partner MARCHIVUM verdankt das LeseZeichen wiederum die Erfahrung mit gestreamten Lesungen. Das Mannheimer Archiv wollte seine oft lange geplanten Veranstaltungen nicht einfach absagen. So wurden sie auch in den Zeiten, als kein Publikum vor Ort sein konnte, durchgeführt und ins Internet übertragen. Das galt auch für die Kooperationsveranstaltungen mit dem LeseZeichen, den Lesungen mit Jana Hensel, Frank Winter und Ira Peter. Natürlich fehlte der direkte Kontakt zum Publikum. Andererseits wurden an jedem der Abende mehr Gäste begrüßt, als im MARCHIVUM Platz gehabt hätten. Ein weiterer Vorteil ist, dass die letzte Lesung sogar länger online abrufbar bleibt. Mit diesem Link gelangen Sie zur Lesung mit Ira Peter.

Eine Frage, die wir uns jetzt schon stellen, ist natürlich: „Was wird von diesen Neuerungen bleiben, wenn Corona einmal nur noch eine unschöne Erinnerung ist?“ Bei Newsletter und Freiluftlesungen ist die Antwort einfach. Hierzu braucht es keine Pandemie, um diese Dinge zu schätzen. Sie sind einfach gut und werden bleiben. Aber wie geht es mit den Online-Veranstaltungen weiter?  Sicher ist es sinnvoll, den Blick in dieser Frage etwas über die Mannheimer Region hinaus schweifen zu lassen. Für die Literatur stellte sich die Situation in den zwei Pandemiejahren folgendermaßen dar: die Buchmessen gingen mit ihrem Veranstaltungsprogramm online, Verlage streamten und nahezu jedes Literaturhaus wurde zum digitalen Sender. Hinzu kamen die Bloggerinnen und Buchexperten, die über Instagram ihre Live-Gespräche anboten. Fast jeden Abend war für das literarisch interessierte Publikum etwas geboten. Die Praxis, viele Streams langfristig in Mediatheken oder auf Plattformen, wie zum Beispiel Youtube, einzustellen, vergrößerte die Auswahl um ein Vielfaches. Wird diese Fülle bleiben? Werden die Veranstalter auch weiterhin übertragen, wenn gleichzeitig Publikum im Saal wieder erlaubt ist? Hybrid heißt das Zauberwort für diese Veranstaltungsform, die derzeit schon kräftig erprobt wird.

Einig sind sich alle Akteure der Literaturszene, egal ob Autor oder Kritikerin, Moderatorin oder Veranstalter, dass der direkte Kontakt mit dem Publikum durch nichts zu ersetzen ist. Umgekehrt gibt es viele Leserinnen und Leser, die einmal die Person direkt erleben möchten, die hinter dem geschätzten Buch steckt. Auch eine Widmung ins Buch bekommt man digital nicht. Die große Resonanz auf die gestreamten Veranstaltungen zeigt aber, dass auch digitale Formate angenommen werden. Es stellt sich nur die Frage, ob sie lediglich als Ersatz und Notlösung angeboten und akzeptiert wurden oder ob sie sich dauerhaft und pandemieunabhängig etablieren können. Losgelöst von der Einschätzung der Erwartungen des Publikums kommen aus der Literaturszene Stimmen, die eine Entwertung der klassischen Veranstaltungen durch die Übertragung ins Internet vermuten. Ebenso wurde schon die Befürchtung geäußert, das sowieso schon knapper werdende Angebot an Lesemöglichkeiten für Autorinnen und Autoren könne sich weiter verringern. Eine Präsenzlesung vor Publikum kann in jeder Stadt neu angeboten werden. Dagegen genügt theoretisch eine einzige Online-Lesung um alle Interessierten zu erreichen, vollkommen unabhängig von ihrem Wohnort.
Eigentlich führen wir hier die gleiche Diskussion, die sich bei der Frage „live dabei oder Fernsehprogramm“ schon seit Jahrzehnten stellt. Aufgrund der Erfahrung mit den Auswirkungen dieses Mediums sei an dieser Stelle eine Prognose gewagt: der Veranstaltungsbereich wird auch gegen die neue Konkurrenz bestehen. Je stärker die Sorge vor Ansteckung in den kommenden Monaten sinken wird, desto mehr wird der Wunsch nach direktem Erlebnis wieder steigen. Dies belegten bereits 2021 die begeisterten Reaktionen, mit der die unterschiedlichen Sommerveranstaltungen angenommen wurden. Das Fernsehen hat dieses Bedürfnis nicht überflüssig gemacht und das Internet wird dies auch nicht tun.

Langfristiger Verlierer könnte aber das klassische Fernsehen werden. Das interessierte Publikum hat sich an die Vielfalt der Angebote gewöhnt. Eine ins Internet gestreamte Lesung aus dem Literaturhaus Frankfurt wird als konkrete Alternative zum Fernsehprogramm wahrgenommen. Die fortwährende Ausdünnung der Literaturformate im Fernsehen wirkt dabei als Chancenverstärker für die digitale Konkurrenz im Internet.

Was die gedruckte Presse schon seit einigen Jahren erleben muss, wird sich im Bereich Fernsehen nun fortsetzen: die klassischen Anbieter verlieren mehr und mehr die Bedeutung, die Themen zu setzen, mit denen sich die Leserinnen und Leser bzw. Zuschauerinnen und Zuschauer befassen können bzw. sollen. Gleichberechtigt und auf gleichen Wegen zu beziehen, bewegt sich nun eine bunte Vielfalt von Produzenten. Schon seit vielen Jahren wird diese Entwicklung unter dem Stichwort „jeder kann zum Sender werden“ beschrieben. War diese Entwicklung bisher aber oft von Einzelpersonen getrieben, die sich mit ihrem Blog oder Youtubekanal teilweise eine erstaunlich große Resonanz geschaffen haben, scheint sich die Entwicklung nun in die Richtung zu verändern, dass Veranstalter gleichzeitig ihr eigener Sender werden. Im Sport war diese Entwicklung schon vor der Coronapandemie zu beobachten. Sportarten, die nicht ausreichend Fernsehzeiten erhielten, entwickelten ihre eigenen Formate im Internet, teilweise mit sehr gutem Erfolg. Es wäre nicht überraschend, wenn dieser Trend zu veranstaltergetriebenen Sendungsformaten sich nun auch in der Kulturszene weiterentwickeln würde, durchaus auch in Kooperation mehrerer Akteure. Wie wäre es mit einem gemeinsamen Portal der Literaturhäuser? Oder einem Angebot des Börsenvereins mit dem er seine Mitglieder unterstützt?
Egal, wie die Aktivitäten aufgebaut werden, es wird vermutlich nicht den Verlierer „Veranstaltungen“, sondern den Gewinner „literarische Szene“ geben, der von einer großen zusätzlichen Öffentlichkeit profitieren wird.
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Wer heute die Vielzahl italienischer Restaurants in unseren Städten sieht, von der einfachen Pizzeria bis zum Gourmettempel, wer erlebt, mit welcher Begeisterung deutsche Touristen in Italien sich Pasta und Saltimbocca alla Romana oder al Limone hingeben, kann sich nicht vorstellen, dass es einmal anders war. Und doch war es so, wie der Literaturwissenschaftler Dieter Richter, der seit über 40 Jahren zu Italien und den Beziehungen deutscher Künstler zu diesem Land forscht, in seinem Band „Con Gusto – Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht“ aufzeigt. Zu Goethes Zeiten galt die italienische Küche mit dem intensiven Einsatz von Knoblauch und Öl für die Reisenden aus dem Norden noch als äußerst unverdauliche, ja für den nordischen Magen und Darm sogar schädliche Küche. Lang hat es gedauert, bis die Speisen Italiens auch in deutschen Landen Einzug hielt: Zuerst exportierten wandernde „Zitronenmänner“ und „Pomeranzengänger“ die Südfrüchte in den Norden. Später brachten die Eisdielen den Duft des Südens. Es folgten die Pizzerien und besseren Lokale. Richter zeichnet die Entwicklung der Annäherung kenntnisreich nach. Immer wieder müssen die Leserinnen und Leser ob der Vorurteile schmunzeln. Und etwas tröstlich ist die Tatsache, dass die Schwierigkeiten durchaus gegenseitig waren. Italienische Gastarbeiter, die schon im 19. Jahrhundert nach Deutschland kamen, hatten auch ihre liebe Müh und Not mit Spätzle und Kartoffeln und manch italienisches Lebensmittelgeschäft in deutschen Landen hatte seinen Ursprung in der Sehnsucht vieler der neuen Mitbürger nach Spaghetti und Parmesankäse. Auch dieser Blickwinkel bleibt nicht unberücksichtigt. Vollends zur kleinen Kulturgeschichte wird „Con gusto“ wenn Richter auf die inneritalienischen Unterschiede eingeht. Nach der Einigung Italiens in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte sich schnell, dass die Norditaliener, deren Küche stark von den engen Beziehungen zu den habsburgischen Landen geprägt war, genauso mit der Küche Roms oder Neapels fremdelten, wie es vorher den Reisenden aus vielen europäischen Ländern ergangen war. „Butterküche“ oder „Ölküche“ waren auch hier die Schlagworte. Heute kaum mehr vorstellbar ist es, dass die Pizza selbst in Rom erst nach 1945 richtig populär wurde, nur kurz bevor sie in Deutschland Einzug hielt. Davor war sie ein neapolitanisches Regionalgericht. Für die Auseinandersetzung mit der italienischen Küche ist Richter übrigens prädestiniert. Hat er uns doch schon vor fast vierzig Jahren mit seinem 1984 erschienen Buch „Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie“ indirekt dorthin geführt und gezeigt, wie wir sie im 21. Jahrhundert wahrnehmen. Erschienen ist das Buch in einer bei Bücherliebhabern besonders beliebten Reihe: SALTO. Die liebevoll gestalteten kleinen roten Bände des Verlags Klaus Wagenbach stechen in jedem Bücherregal sofort heraus. Oft sind es literarische Reiseführer oder besonders sorgsam ausgewählte Texte aus dem Bereich Kunst und Kultur. Aber auch die Literatur ist gut vertreten. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie stets eine Einladung zu einer kulturellen Begegnung sind und neue Blickwinkel eröffnen. Und da fügt sich „Con gusto“ perfekt ein. „Con gusto – Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht“ von Dieter Richter ist erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, 168 Seiten, 20,-- €.
von Raimund Gründler 10 Okt., 2021
Mit großem Interesse erwarteten die Freundinnen und Freunde guter Literatur in der gerade ausklingenden Woche die Vergabe des Literaturnobelpreises 2021. Und als die Entscheidung über die Ticker lief, schauten sich die meisten etwas hilflos um: Abdulrazak Gurnah, der Name des 1948 auf Sansibar geborenen und seit vielen Jahrzehnten in England lebenden Autors, sagte ihnen noch nichts. Was in unserem Sprachraum sicherlich daran liegt, dass aus seinem vielfältigen Werk bisher lediglich der 1988 erschienene Roman „Pilgrims Way“ auch eine deutsche Übersetzung erhielt, die 2004 unter dem Titel „Schwarz auf Weiß“ vorgelegt wurde. Wir können sicher sein, dass weitere Romane, Erzählungen und Essays nun bald durch die Hände guter Übersetzerinnen und Übersetzer gehen werden. Mit den zentralen Themen Migration und koloniale Vergangenheit seiner afrikanischen Heimat werden Gurnahs Schriften in Deutschland nun ganz aktuelle Diskussionen bereichern. Gilt es den neuen Literaturnobelpreisträger noch zu entdecken, sorgt der Kröner Verlag dafür, dass eine seiner frühen Vorgängerinnen nicht in Vergessenheit gerät: Sigrid Undset. Schon der Weg Undsets in die Literatur ist eine Erzählung wert. Ihr Vater, ein renommierter Archäologe, weckt früh das Interesse seiner ältesten Tochter an Geschichte und Kulturgeschichte. Als Sigrid elf Jahre alt ist, stirbt er. Die nun schlagartig sehr mageren finanziellen Möglichkeiten der Familie führen dazu, dass ihre Schullaufbahn bereits mit der Mittelschulprüfung endet und der Einstieg ins Berufsleben als Sekretärin wartet. Aber die Leidenschaft für Geschichte und Literatur ist da und lässt die junge Dame nicht mehr los. In jeder freien Minute versinkt sie in Büchern und bald beginnt sie auch selbst zu schreiben. Und so unglaublich es klingt, Sigrid Undset steigt als reine Autodidaktin zu einer der führenden Intellektuellen Norwegens auf. 1928, sie ist gerade einmal 46 Jahre alt, erhält sie wohl die höchste Ehre, die es für eine Autorin geben kann. Ihr wird der Literaturnobelpreis verliehen. Geehrt wird sie vor allem für ihren dreibändigen Roman „Kristin Lavranstochter“. Das Nobelpreiskomitee führt in seiner Begründung an, sie werde „vornehmlich für ihre mächtigen Schilderungen aus dem mittelalterlichen Leben des (skandinavischen) Nordens“ ausgezeichnet. Der Stuttgarter Kröner Verlag hat sich diesem Hauptwerk der norwegischen Romanliteratur nun angenommen und die erfahrene Übersetzerin Gabriele Haefs mit einer Neuübersetzung der Geschichte, die im 14. Jahrhundert spielt, beauftragt. Der erste der drei Bände, „Der Kranz“ ist vor einigen Wochen erschienen. Dieser erste Teil der Trilogie begleitet die titelgebende Kristin, den strahlenden Liebling ihres Vaters Lavran, von der frühesten Kindheit bis zu ihrer Hochzeit. Undset entwickelt rund um ihre Hauptfiguren das Bild des mittelalterlichen Norwegens. Vor den Leserinnen und Lesern entfaltet sich ein farbiges Panorama der in strenge Strukturen und Sitten eingezwängten ständischen Gesellschaft mit all ihren Pflichten und Zwängen, aber auch ihren Sicherheiten und Gewissheiten. Und mitten drin Kristin, die so sehr die Erwartungen ihres über alles geliebten Vaters erfüllen möchte und doch von der Liebe auf ganz andere Pfade und in einen bitteren Trotz geführt wird. Mutig widersetzt sie sich der patriarchalischen Männergesellschaft und ebenso der dominanten Rolle der Kirche. Sie geht ihren Weg mit einer Beharrlichkeit, die sie am Ende an ihr Ziel, die Hochzeit mit dem von ihr und nicht dem von ihrem Vater ausgewählten Mann bringt. Aus Liebe entwickelt sie sich zu einer starken, eigenständigen Frauenfigur, die auch ins 21. Jahrhundert passen würde. Und doch ist der Roman auch eine Ode an die alte, streng geregelte Gesellschaft, denn an keiner Stelle des Buchs blitzt auch nur ansatzweise die Hoffnung auf, dass Kristin sich auf dem Weg in eine glückliche Zukunft befindet. Im Gegenteil: je näher sie ihrem Ziel kommt, desto größer wird ihre Verzweiflung. Mit der auch in Materialauswahl und Aufmachung sehr sorgsam gestalteten Neuedition legt der Kröner Verlag nicht nur ein zeitlos lesenswertes Buch vor. Gleichzeitig macht er sich in einer für Verlage nicht einfachen Zeit um ein großes literarisches Erbe verdient, das er mit einer neuen Auflage aus dem frühen 20. ins 21. Jahrhundert holt. Die Vorfreude auf die Bände 2 und 3 ist groß.
von Raimund Gründler 28 März, 2021
Es passiert immer wieder: ein Mensch verschwindet von einem Tag auf den anderen und selbst engste Freunde können es sich nicht erklären. Ist etwas passiert – oder hat der- oder diejenige sich abgesetzt, weil er an einem anderen Ort ein neues Leben beginnen möchte? Mit genau so einer Situation konfrontiert der französische Nobelpreisträgers Patrick Modiano den Ich-Erzähler in seinem neuen Roman. Warum verliert sich Mitte der 60er des vorigen Jahrhunderts mitten in Paris plötzlich die Spur von Noëlle Lefebvre. Wer ist sie überhaupt? Jean Eyben ist knapp zwanzig, als er in einer Pariser Detektei auf diesen Fall angesetzt wird. Alle Hinweise führen ins Leere, doch das Rätsel lässt Jean auch Jahre später nicht los. In unregelmäßigen Abständen greift er im Laufe der nächsten Jahrzehnte das Thema auf, obwohl es schon lange nicht mehr sein beruflicher Auftrag ist. Er findet Personen aus dem Umfeld der Verschwundenen, entdeckt einzelne Facette ihres Lebens und doch scheint sich der Schleier nicht zu lüften, der sich um ihr Leben und ihr Verschwinden legt. „Unsichtbare Tinte“ ist ein typischer Modiano-Roman: Identitätssuche, Vergessen und Erinnerung sind zentrale Elemente, die durch filigran herausgearbeitete Feinheiten der Wahrnehmung ihre besondere Wirkung entfalten. Und natürlich dürfen die Streifzüge durch Paris nicht fehlen, die die Werke des vielfach ausgezeichneten Autors stets prägen. Wobei der Abstecher nach Rom im neuesten Werk einen bemerkenswerten Kontrastpunkt setzt. Der kleine Roman verblüfft und berührt. Er zieht die Leserinnen und Leser förmlich in die Geschichte hinein – und am Ende lässt er sie überrascht und fasziniert wieder in ihren Alltag hinaustreten. "Unsichtbare Tinte" von Patrick Modiano ist erschienen im Hanser Verlag, 114 Seiten, 20,00.-- €.
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