"Das Jahr 1990 freilegen" - Ein Buch zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung.
2. Oktober 2020
Preis der Stiftung Buchkunst für ein Dokument der Zeitgeschichte.
Als Tag der Deutschen Einheit hat der 3. Oktober als Feiertag seinen festen Platz im Jahreskalender. Manch einer hat noch das Bild der auf den Reichstagstreppen zu Berlin versammelten Politprominenz vor Augen, die kurz vor Mitternacht in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 gebannt das Hissen der schwarz-rot-goldenen Flagge verfolgten, die ab sofort für das nun wiedervereinigte Deutschland stehen würde. Aber für viele in Ost und West ist der 3. Oktober vor allem ein freier Tag. Viel präsenter in den Köpfen der Menschen sind die Bilder, die rund elf Monate zuvor entstanden. Die Bilder vom 9. November 1989, als in Berlin plötzlich und unerwartet die Mauer geöffnet wurde und das Ende der vierzig Jahre währenden Deutschen Teilung eingeläutet wurde. Sie wurden in der Zwischenzeit auch so oft im Fernsehen wiederholt, dass Vergessen unmöglich ist und sie selbst jenen die damals noch gar nicht geboren waren, vertraut sind. Aber was war zwischen diesen Tagen der Euphorie im November 1989 und dem formalen Beitritt der „neuen Bundesländer“ im Oktober 1990. Volkskammerwahlen im März 1990 und Wirtschafts- und Währungsunion sind zwei Stichworte großer Ereignisse. Aber auch viele kleine, manchmal nur persönliche Momente gab es in dieser Zeit. Große Hoffnungen waren da und erste Enttäuschungen kamen auf. Insgesamt ist die Zeit zwischen den zwei großen Daten in der kollektiven Erinnerung eher diffus.
Dies möchte der Leipziger Autor und Verleger Jan Wenzel ändern. In seinem Verlag Spector Books veröffentlichte er ein beeindruckendes Buch mit dem bezeichnenden Titel „Das Jahr 1990 freilegen“. Gemeinsam mit mehreren Kolleginnen und Kollegen hat er unzählige Aspekte und Momente dieses ereignisreichen Jahres zusammengetragen. Aus zahlreichen Bilddokumenten, Briefen, Sitzungsprotokollen und kurzen, essayistischen Texten wurde ein Buch zusammengestellt, man könnte auch sagen montiert, das an vielen Stellen an die klassischen Wandzeitungen erinnert. Originaldokumente und nun im Abstand von 30 Jahren geschriebene Texte ergänzen sich und geben ein starkes Bild eines für unser Land so entscheidenden Jahres. Bei vielen Leserinnen und Lesern wird dieses Buch auch zahlreiche Erinnerungen wachrufen. An Momente, an Ereignisse, aber auch an Menschen, die in dieser Zeit wichtig waren und Verantwortung übernommen hatten.
Besonders die großartigen, schwarz-weißen Bildstrecken teilweise renommierter Fotografen fallen im ersten Moment ins Auge. Aber es lohnt sich genauso, bei den Texten hängen zu bleiben. Nicht nur inhaltlich ist der fast sechshundert Seiten starke Band gelungen. Auch in seiner Gestaltung sticht er heraus und so verwunderte es nicht, dass er sich im Juni auf der Liste der 25 „schönsten Bücher Deutschlands“ wiederfand, die von der Stiftung Buchkunst im jährlichen Wettbewerb ausgezeichnet wurden. Mit diesem Preis wird das Augenmerk darauf gerichtet, dass es nicht nur der Inhalt ist, der die Menschen zu einem bestimmten Buch greifen lässt. Aufmachung, Cover, Satz, Illustrationen, Papier oder auch nur ein spezielles Format können einen guten Text aus der Menge der Bücher herausheben und ein einmaliges Werk schaffen. Aus den 25 preisgekrönten Büchern wird dann bei einer gesonderten Preisverleihung mit dem „Preis der Stiftung Buchkunst“, der mit 10.000,-- € dotiert ist, ein Buch nochmals besonders herausgehoben. Und groß war die Freude in Leipzig als vor einigen Tagen bekannt gegeben wurde, dass dieser Preis im Jahr 2020 an „Das Jahr 1990 freilegen“ geht. Eine verdiente Auszeichnung für ein Buch, das bald schon als Dokumentation eines wichtigen Abschnitts unserer jüngeren Geschichte gelten wird.

In vielen Veranstaltungen wurde in den letzten Monaten an das Ende des 2. Weltkriegs vor 80 Jahren erinnert. Intensiv wurde der Verbrechen gedacht, die von unserem Land ausgehend in viele Länder gebracht wurden. Im Mittelpunkt des Gedenkens standen meist unsere direkten Nachbarvölker. Es ist eine gemeinsame Verpflichtung aller Deutschen, mitzuhelfen, dass diese Verbrechen nie vergessen werden. Genauso, wie es eine gemeinsame Aufgabe ist, an den Projekten der Aussöhnung und Verständigung beständig weiter zu arbeiten. Ich möchte heute den Blick aber noch etwas weiten und mit zwei Augenzeugenberichten auf ein Land lenken, das in diesem Krieg ebenfalls unsagbar leiden musste, dessen Kriegsschicksal bei uns aber längst nicht mehr so präsent ist. Die Rede ist von Norwegen, das im Frühjahr 1940 von der deutschen Wehrmacht überfallen wurde und nach wenigen Wochen des Kampfes besetzt wurde. Mancher Tourist wundert sich, wenn er in norwegischen Küstenstädten wie Bodø oder Molde erfährt, dass diese von der deutschen Wehrmacht komplett zerstört wurden. Was war passiert? Auskunft darüber gibt das Buch “Krieg in Norwegen” von Willy Brandt. Der spätere Bundeskanzler war bereits 1933 vor der nationalsozialistischen Verfolgung der Sozialdemokraten und Sozialisten nach Norwegen geflohen. Als die Deutschen 1940 das Land seines Exils eroberten, führte ihn seine weitere Flucht ins neutrale Schweden. Dort veröffentlichte er dieses Buch, mit dem er eine zusammenhängende Übersicht der Ereignisse gibt, die mit dem deutschen Blitzüberfall am 9. April 1940 begannen. Bereits 1942 erschien das Buch in der Schweiz in deutscher Übersetzung. Tag für Tag und Ort für Ort zeichnet Brandt den rund zwei Monate dauernden Krieg nach. Angriff nach Angriff und Abwehrschlacht auf Abwehrschlacht ist festgehalten. Dies wirkt auf den Leser und die Leserin, die Norwegen nicht oder nur wenig kennen, vielleicht etwas monoton. Aber er gibt einen guten Einblick, mit welcher Brutalität dieser Krieg in dieses Land gebracht wurde. An dieser Stelle ist die autobiographische Erzählung “Rückkehr in die Zukunft” der norwegischen Literaturnobelpreisträgerin Sigrid Undset eine hervorragende Weiterführung. Es schildert die Flucht der überzeugten und sich öffentlich bekennenden Nazi-Gegnerin aus Norwegen über Schweden, Russland und Japan in die USA. Vor allem beschreibt sie aber, wie dieser Krieg über ein Land hereinbrach, das fest an eine regelbasierte Welt glaubte, das fest davon überzeugt war, dass ein Land, das selbst auf den Frieden ausgerichtet ist, respektiert werde. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat dieser Aspekt von Undsets Schrift eine neue und beängstigende Aktualität erhalten. Beide Bücher wurden noch während des Krieges geschrieben und veröffentlicht. Dies bedeutet, dass noch nicht alle Informationen verfügbar waren. Vor allem bedeutet dies aber, dass das Ende noch offen war. Bei Undset beeindruckt, wie sie schon 1942 davon überzeugt war, dass nach Kriegsende eine gute Zukunft nur in der Zusammenarbeit der Völker erreicht werden könne und in diese künftige europäische Ordnung auch Deutschland (sofern es besiegt werde) einbezogen werden müsse. Dass diese Einbeziehung nicht nur aus idealistischen Motiven gewollt wurde, liegt auf der Hand. Ganz offen spricht sie von einer “Zähmung der deutschen Mentalität”. Dass das Urteil über die Deutschen nach einem solchen Überfall nicht positiv und recht emotional war, lässt sich nachvollziehen. Umso beeindruckender wirkt die Entwicklung, die nach 1945 eingetreten ist. Dem Europa Verlag in München und dem Stuttgarter Alfred Kröner Verlag ist es zu verdanken, dass die beiden Bücher neu aufgelegt wurden. Undsets Werk ist sogar erstmals in deutscher Sprache erschienen. Bei Willy Brandt sei noch angemerkt, dass er es in einer Fremdsprache geschrieben hat, aus der es dann ins Deutsche übersetzt wurde. Dies erklärt, dass seine Sprache in diesem Buch etwas steifer ist, als wir es aus anderen seiner Texte kennen. “Krieg in Norwegen” von Willy Brandt ist erschienen im Europa Verlag, 200 Seiten, 15 Euro. “ Rückkehr in die Zukunft” von Sigrid Undset ist erschienen im Alfred Kröner Verlag, 280 Seiten, 25 Euro

Am 27. Januar 2025 jährt sich zum 80igsten Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Seit 1996 wird dieser Tag in Deutschland als offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In einer Zeit, in der Dinge, die jahrzehntelang als unsagbar galten, plötzlich wieder ungeniert verbreitet werden, in einer Zeit, in der wieder die Entrechtung von Menschen gefordert wird, ist so ein Gedenktag wichtiger und notwendiger denn je. Dabei kommt den Stimmen der Überlebenden eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten und müssen uns Mahnung für unser Handeln sein. Achtzig Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorsystems wird die Zahl der Zeitzeugen leider von Jahr zu Jahr geringer. Immer weniger Menschen können den nachfolgenden Generationen aus eigener Erfahrung von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft berichten. Immer seltener werden damit die Stimmen, die aus eigenem Erleben berichten können, zu welchen Exzessen totalitäre Systeme führen können und was es bedeutet, wenn die Bewahrung der Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Religion nicht mehr oberste Maxime eines Staates ist. Umso wichtiger ist es, dass die Texte, die uns Überlebende hinterlassen haben, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie machen am Einzelschicksal deutlich, was die totale Entrechtung jeweils für einen einzelnen Menschen bedeutete. Solche Bücher müssen immer wieder neu diskutiert und weiter gegeben werden damit die Erinnerungen dieser Menschen im öffentlichen Gedächtnis nicht verblassen. Drei dieser Bücher wollen wir Ihnen heute am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus besonders empfehlen. Max Mannheimer: Drei Leben - Erinnerungen „Drei Leben“ das sind die unbeschwerte Jugend vor dem Anschluss des Sudentenlandes an das Deutsche Reich, das Überleben der Konzentrationslager Auschwitz und Dachau, und das Leben danach, das Mannheimer trotz seiner Erlebnisse tatkräftig und optimistisch gestaltete. Primo Levi: Ist das ein Mensch Der Bericht des italienischen Ausschwitz-Überlebenden wurde bereits 1947 veröffentlicht. Er gehört also zu den frühesten niedergeschriebenen Zeugnissen. Bis heute gilt er als eine der eindrucksvollsten Beschreibungen des Terrors und des Schreckens in den Konzentrationslagern. Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau – Wie ich überlebt habe Kolinka wurde aus ihrer französischen Heimat nach Auschwitz verbracht. Durch den nüchternen Stil ihrer Erzählung erfassen die Schrecken des Lageralltags mit Angst, Hunger, Dreck und Gestank die Leserinnen und Leser besonders unvermittelt. Dies sind nur drei Leseempfehlungen. Viele andere Lesenswerte Bücher bleiben ungenannt. Eine viel umfassendere Liste hat das Kulturmagazin Perlentaucher zusammengestellt, die wir Ihnen empfehlen und die Sie hier finden .