27. September - der "Jedertag der Literatur"
27. September 2020
"Ein Tag im Jahr" - und das mehr als fünfzig Jahre lang.

Der 27. September ist ein Tag, der auf den ersten Blick nicht aus den 365 Tagen eines Jahres heraussticht. Gut, an diesem Tag wurden einige Prominente geboren, so zum Beispiel im Jahr 1601 König Ludwig XIII. von Frankreich und 1840 der Zeichner und Illustrator Thomas Nast, der mit seinen Zeichnungen des Santa Claus als einer der Schöpfer des Weihnachtsmanns in seiner heutigen Form gelten kann. Verstorben sind an diesem Tag 1917 der französische Maler Edgar Degas und 1921 der Komponist Engelbert Humperdinck.
Auch dem einen oder anderen mehr oder weniger bedeutenden Ereignis kann man gedenken. So begann am 27. September 1589 der Bau des Münchner Hofbräuhauses und am gleichen Tag wurde 1825 in England die erste öffentliche Eisenbahn der Welt eingeweiht. Aber jeder Tag im Jahr hat seine Gedenktage.
Dass der 27. September in der Literatur eine besondere Stellung einnimmt, geht auf den russischen Schriftstelle Maxim Gorki zurück. Ihn beschäftigte die Überlegung, dass sich die Literatur in ihren Schilderungen vor allem auf große Ereignisse konzentriert und auch der Alltag sich oft in inszenierter, zugespitzter, verdichteter und dramatisierter Form in den Büchern wiederfindet. Ereignislosigkeit ist in kaum einem Roman vorgesehen. 1935 forderte er die Welt auf, jeder für sich solle einen ganz gewöhnlichen Tag schildern. Gemeinsam sollte so ein Portrait eines „Jedertags“ auf dem Planeten Erde entstehen. Wieso er gerade auf den 27. September als Jedertag kam, ist nicht bekannt. Auch liegt keine umfassende Zusammenstellung aller Tagesbeschreibungen vor. Vermutlich verfolgte niemand mehr die Aktion weiter nachdem Gorki kurz darauf im Juni 1936 verstorben war. Im Jahr 1960 erinnerte sich aber die Moskauer Zeitung Iswestija des Aufrufs, den sie auch 1936 veröffentlicht hatte. Sie wiederholte den Aufruf und forderte dazu auf, den 27. September so präzise wie möglich zu schildern.
Auch 1960 wurde wohl keine große Massenschreibbewegung ausgelöst. Aber in Halle an der Saale erreichte er die junge Schriftstellerin Christa Wolf. Sie setzte sich hin und schrieb
Aber sie veröffentlichte den Text nicht sofort. Das geschah erst viele Jahre später und zusammen mit vierzig weiteren Texten. Denn Christa Wolf schrieb nun jedes Jahr am 27. September nieder, was sie an diesem Tag bewegte und was sich an diesem Tag so ereignete. Wie es zu erwarten war, waren es meist keine großen Ereignisse. Es waren ganz alltägliche Dinge des Haushalts und der Familie. Mal war ein Kind krank und dann musste wieder eingekauft werden und Pilze wurden auch einmal falsch gewürzt. Aber jeder 27. September steht auch im allgemeinen Kontext seiner Zeit. Beeindruckend beispielsweise die Überlegungen zur Wiedervereinigung und zur Verfassungsfrage, die im Jahr 1990 niedergeschrieben wurden. Christa Wolf stellte im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des über 650 Seiten umfangreichen Buchs 2003 fest, dass sie bewusst auch stets den Zeithintergrund und Zufälliges bei ihren Texten eingebunden habe. Und so stehen die großen und die kleinen Dinge nebeneinander. Die Leserinnen und Leser erfahren viel über die Autorin und ihre Familie. Sie erfahren viel über die inneren Auseinandersetzungen Wolfs zwischen Nähe zum Staat und der schon früh beginnenden Ablösung. Aber genauso ist „Ein Tag im Jahr“ ein Dokument der Zeitgeschichte, das interessante Perspektiven auf das erst geteilte und dann wiedervereinigte Deutschland frei gibt.
Der 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung kann ein guter Anlass sein, dieses Buch wieder einmal zu lesen.
Christa Wolf beendete ihre jährlichen Niederschriften übrigens nicht mit der Veröffentlichung dieses Bandes. Bis zu ihrem Tod protokolierte sie jährlich den 27. September. Diese Aufzeichnungen erschienen nach ihrem Tod unter dem Titel: „Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001–2011“, herausgegeben von ihrem Mann Gerhard Wolf.
In vielen Veranstaltungen wurde in den letzten Monaten an das Ende des 2. Weltkriegs vor 80 Jahren erinnert. Intensiv wurde der Verbrechen gedacht, die von unserem Land ausgehend in viele Länder gebracht wurden. Im Mittelpunkt des Gedenkens standen meist unsere direkten Nachbarvölker. Es ist eine gemeinsame Verpflichtung aller Deutschen, mitzuhelfen, dass diese Verbrechen nie vergessen werden. Genauso, wie es eine gemeinsame Aufgabe ist, an den Projekten der Aussöhnung und Verständigung beständig weiter zu arbeiten. Ich möchte heute den Blick aber noch etwas weiten und mit zwei Augenzeugenberichten auf ein Land lenken, das in diesem Krieg ebenfalls unsagbar leiden musste, dessen Kriegsschicksal bei uns aber längst nicht mehr so präsent ist. Die Rede ist von Norwegen, das im Frühjahr 1940 von der deutschen Wehrmacht überfallen wurde und nach wenigen Wochen des Kampfes besetzt wurde. Mancher Tourist wundert sich, wenn er in norwegischen Küstenstädten wie Bodø oder Molde erfährt, dass diese von der deutschen Wehrmacht komplett zerstört wurden. Was war passiert? Auskunft darüber gibt das Buch “Krieg in Norwegen” von Willy Brandt. Der spätere Bundeskanzler war bereits 1933 vor der nationalsozialistischen Verfolgung der Sozialdemokraten und Sozialisten nach Norwegen geflohen. Als die Deutschen 1940 das Land seines Exils eroberten, führte ihn seine weitere Flucht ins neutrale Schweden. Dort veröffentlichte er dieses Buch, mit dem er eine zusammenhängende Übersicht der Ereignisse gibt, die mit dem deutschen Blitzüberfall am 9. April 1940 begannen. Bereits 1942 erschien das Buch in der Schweiz in deutscher Übersetzung. Tag für Tag und Ort für Ort zeichnet Brandt den rund zwei Monate dauernden Krieg nach. Angriff nach Angriff und Abwehrschlacht auf Abwehrschlacht ist festgehalten. Dies wirkt auf den Leser und die Leserin, die Norwegen nicht oder nur wenig kennen, vielleicht etwas monoton. Aber er gibt einen guten Einblick, mit welcher Brutalität dieser Krieg in dieses Land gebracht wurde. An dieser Stelle ist die autobiographische Erzählung “Rückkehr in die Zukunft” der norwegischen Literaturnobelpreisträgerin Sigrid Undset eine hervorragende Weiterführung. Es schildert die Flucht der überzeugten und sich öffentlich bekennenden Nazi-Gegnerin aus Norwegen über Schweden, Russland und Japan in die USA. Vor allem beschreibt sie aber, wie dieser Krieg über ein Land hereinbrach, das fest an eine regelbasierte Welt glaubte, das fest davon überzeugt war, dass ein Land, das selbst auf den Frieden ausgerichtet ist, respektiert werde. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat dieser Aspekt von Undsets Schrift eine neue und beängstigende Aktualität erhalten. Beide Bücher wurden noch während des Krieges geschrieben und veröffentlicht. Dies bedeutet, dass noch nicht alle Informationen verfügbar waren. Vor allem bedeutet dies aber, dass das Ende noch offen war. Bei Undset beeindruckt, wie sie schon 1942 davon überzeugt war, dass nach Kriegsende eine gute Zukunft nur in der Zusammenarbeit der Völker erreicht werden könne und in diese künftige europäische Ordnung auch Deutschland (sofern es besiegt werde) einbezogen werden müsse. Dass diese Einbeziehung nicht nur aus idealistischen Motiven gewollt wurde, liegt auf der Hand. Ganz offen spricht sie von einer “Zähmung der deutschen Mentalität”. Dass das Urteil über die Deutschen nach einem solchen Überfall nicht positiv und recht emotional war, lässt sich nachvollziehen. Umso beeindruckender wirkt die Entwicklung, die nach 1945 eingetreten ist. Dem Europa Verlag in München und dem Stuttgarter Alfred Kröner Verlag ist es zu verdanken, dass die beiden Bücher neu aufgelegt wurden. Undsets Werk ist sogar erstmals in deutscher Sprache erschienen. Bei Willy Brandt sei noch angemerkt, dass er es in einer Fremdsprache geschrieben hat, aus der es dann ins Deutsche übersetzt wurde. Dies erklärt, dass seine Sprache in diesem Buch etwas steifer ist, als wir es aus anderen seiner Texte kennen. “Krieg in Norwegen” von Willy Brandt ist erschienen im Europa Verlag, 200 Seiten, 15 Euro. “ Rückkehr in die Zukunft” von Sigrid Undset ist erschienen im Alfred Kröner Verlag, 280 Seiten, 25 Euro

Am 27. Januar 2025 jährt sich zum 80igsten Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Seit 1996 wird dieser Tag in Deutschland als offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In einer Zeit, in der Dinge, die jahrzehntelang als unsagbar galten, plötzlich wieder ungeniert verbreitet werden, in einer Zeit, in der wieder die Entrechtung von Menschen gefordert wird, ist so ein Gedenktag wichtiger und notwendiger denn je. Dabei kommt den Stimmen der Überlebenden eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten und müssen uns Mahnung für unser Handeln sein. Achtzig Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorsystems wird die Zahl der Zeitzeugen leider von Jahr zu Jahr geringer. Immer weniger Menschen können den nachfolgenden Generationen aus eigener Erfahrung von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft berichten. Immer seltener werden damit die Stimmen, die aus eigenem Erleben berichten können, zu welchen Exzessen totalitäre Systeme führen können und was es bedeutet, wenn die Bewahrung der Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Religion nicht mehr oberste Maxime eines Staates ist. Umso wichtiger ist es, dass die Texte, die uns Überlebende hinterlassen haben, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie machen am Einzelschicksal deutlich, was die totale Entrechtung jeweils für einen einzelnen Menschen bedeutete. Solche Bücher müssen immer wieder neu diskutiert und weiter gegeben werden damit die Erinnerungen dieser Menschen im öffentlichen Gedächtnis nicht verblassen. Drei dieser Bücher wollen wir Ihnen heute am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus besonders empfehlen. Max Mannheimer: Drei Leben - Erinnerungen „Drei Leben“ das sind die unbeschwerte Jugend vor dem Anschluss des Sudentenlandes an das Deutsche Reich, das Überleben der Konzentrationslager Auschwitz und Dachau, und das Leben danach, das Mannheimer trotz seiner Erlebnisse tatkräftig und optimistisch gestaltete. Primo Levi: Ist das ein Mensch Der Bericht des italienischen Ausschwitz-Überlebenden wurde bereits 1947 veröffentlicht. Er gehört also zu den frühesten niedergeschriebenen Zeugnissen. Bis heute gilt er als eine der eindrucksvollsten Beschreibungen des Terrors und des Schreckens in den Konzentrationslagern. Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau – Wie ich überlebt habe Kolinka wurde aus ihrer französischen Heimat nach Auschwitz verbracht. Durch den nüchternen Stil ihrer Erzählung erfassen die Schrecken des Lageralltags mit Angst, Hunger, Dreck und Gestank die Leserinnen und Leser besonders unvermittelt. Dies sind nur drei Leseempfehlungen. Viele andere Lesenswerte Bücher bleiben ungenannt. Eine viel umfassendere Liste hat das Kulturmagazin Perlentaucher zusammengestellt, die wir Ihnen empfehlen und die Sie hier finden .