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"Die Welt neu beginnen" - Portrait einer Epoche

Raimund Gründler • März 07, 2021

Helge Hesse führt in die Jahre 1775 - 1779

Bestimmte Jahre werden in der Wahrnehmung mit einzelnen Ereignissen verbunden. Gedenktage und Jubiläumsfeiern sorgen dafür, dass die Erinnerung an diese Momente der Weltgeschichte regelmäßig aufgefrischt werden. Und steht ein rundes Jubiläum an, füllen sich Büchertische mit Neuerscheinungen zum entsprechenden Ereignis. Zur Zeit können wir dies mit der Erinnerung an die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 erleben. Allerdings führen solche Gedenken oft zu einer isolierten, losgelösten Betrachtung einzelner Höhepunkte der Geschichte.

Einen anderen Weg geht nun der Autor Helge Hesse mit seinem Werk „Die Welt neu beginnen“. Er befasst sich mit den letzten 25 Jahren des 18. Jahrhunderts, einer Epoche, in der sich die Welt nicht nur an einer Stelle oder in einem Bereich veränderte, sondern, so könnte man etwas flapsig formulieren, an allen Ecken und Enden und kaum ein Stein auf dem anderen blieb. Die politischen Veränderungen durch den Ausbruch der französischen Revolution im Jahr 1789 hat sich aus dieser Epoche auch in Deutschland wohl am stärksten im öffentlichen Gedächtnis gehalten. Aber wem ist auf Anhieb bewusst, dass in diesen Jahren auch die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Unabhängigkeit erklärten und erkämpften, James Cook auf seinen Entdeckungsfahrten den Pazifik und William Herschel das Weltall kartographierten. Die Dampfmaschine von James Watt revolutionierte die Arbeitswelt und die Gedanken von Hegel und Kant die Philosophie. Ein völlig neues Menschenbild entstand - frei und gleich sollte der Mensch plötzlich sein! Diese Idee ging mit Umwälzungen in Politik und Gesellschaft, Wissenschaften und Künsten einher. Es bildeten sich Fundamente und Werte, wie sie - trotz aller Gefahren - bis in unsere Gegenwart Bestand haben.

Helge Hesse erzählt von diesem Aufbruch und seinen Folgen. In einer mitreißenden Tour d'Horizon spürt er den Zielen und Hoffnungen von großen Figuren der Geschichte und ihrer Zeit nach. Wer ihm folgt, erlebt Goethe und Franklin, Washington, Mozart, Lichtenberg und viele andere aus nächster Nähe. Und begreift, wie das entstand, was wir gemeinhin „westliches Abendland“ nennen. Helge Hesse zeigt sich wieder einmal als virtuoser Meister der erzählten Geschichte und der Darstellung von Zusammenhängen und Querverbindungen. Und ganz nebenbei freut sich die Leserinnen und Leser aus Mannheim darüber, wie oft auch ihre Stadt in diesen Jahren des epochalen Umbruchs auch Schauplatz und Ort der Begegnung war. So zum Beispiel mit der für die Entwicklung der Literatur und des Schauspiels so zentralen Uraufführung der Räuber von Friedrich Schiller.
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