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Bachmannpreis 2020

Raimund Gründler • Juni 23, 2020

Tage der deutschsprachigen Literatur als Digital- und Fernsehereignis


Die 44. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt gingen am vergangenen Sonntag mit der Verleihung der Preise zu Ende. Mit Helga Schubert wurde eine Autorin mit dem Bachmannpreis ausgezeichnet, die ihre ganz eigene Geschichte mit in den Wettbewerb brachte. Vor vierzig Jahren erstmals nach Klagenfurt eingeladen, konnte sie die Einladung damals nicht annehmen.  Die Kulturbehörden der DDR verweigerten ihr die Ausreise nach Österreich. Offensichtlich fürchtete man sich vor einem erneuten negativen DDR-Bild, nachdem zwei Jahre zuvor Ulrich Plenzdorf mit einem regimekritischen Beitrag gewonnen hatte. Außerdem wollte man dem Eindruck einer gesamtdeutschen Literatur entgegen wirken.

Auch in diesem Jahr konnte Helga Schubert nicht nach Klagenfurt reisen. Corona verhinderte dies. Aber der Wettbewerb fand als Fernseh- und Digitalereignis statt und löste mindestens so viel Aufmerksamkeit wie in den vergangenen Jahren aus, als sich die Literaturwelt im Juni ganz klassisch am Wörthersee versammelte. Da darf schon einmal die Frage gestellt werden, wieso gerade die Tage der deutschsprachigen Literatur, die in diesem Jahr zum vierundvierzigsten Mal stattfanden, mit der Verleihung des Bachmannpreises so eine hohe Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Denn insgesamt gibt es sehr viele Literaturpreise im deutschsprachigen Raum, manche ähnlich gut dotiert wie die Klagenfurter Veranstaltung, und trotzdem zieht kaum einer eine solche Resonanz und eine so breite Medienberichterstattung auf sich. Auch der weitere Weg der Gewinnerinnen und Gewinner seit 1977 begründet nicht das überdurchschnittliche Interesse. Natürlich wurden hier schon erfolgreiche Schriftstellerlaufbahn gestartet. Man denke an Sibylle Lewitscharoff, Uwe Tellkamp oder Lutz Seiler. Aber manche Preisträgerin und mancher Preisträger ist bis heute eher dem interessierten Fachpublikum interessant. 2020 war insofern eine Ausnahme, da mit Helga Schubert eine Autorin gewann, die längst ihren festen Platz in der literarischen Wahrnehmung hat und niemanden mehr etwas beweisen musste. Wobei ihr Wettbewerbsbeitrag „Vom Aufstehen“ so überzeugend war, dass wohl nicht ein Beobachter auf die Idee verfallen wäre, hier würde eine Lebensleistung gewürdigt.

Und damit sind wir an einem ganz zentralen Punkt bei der Suche nach der Besonderheit des Bachmannpreises. Es ist das Veranstaltungsformat, das in Details immer weiterentwickelt wurde, aber im Grundprinzip seit 1978 Bestand hat. Die Autorinnen und Autoren müssen sich um die Teilnahme mit einem bisher unveröffentlichten Text bewerben. Jeder Juror wählt zwei Beiträge aus, die dann bei den Tagen der deutschen Literatur in Klagenfurt vorgetragen wird. Im direkten Anschluss an den Vortrag und in Anwesenheit des Autors erfolgt die öffentliche Diskussion der Jury. Auch die abschließende Abstimmung erfolgt öffentlich. Vermutlich ist es dieser exklusive Charakter der speziell für Klagenfurt geschriebenen Literatur, verbunden mit dem Wettkampfcharakter und der offenen Diskussion, die den Bachmannpreis so aus der Vielzahl der Preise heraushebt und viele Literaturfreunde dazu verleitet, im Juni nach Klagenfurt zu fahren oder ganze Sommertage vor dem Fernseher zu verbringen.

2020 hatten die Veranstalter nun die Herausforderung, aus dem im Fernsehen übertragenen Live-Ereignis ein reines Fernseh- und Digitalereignis zu gestalten. Kurz und knapp kann festgestellt werden, dass dies besser gelang, als viele Skeptiker erwartet hätten. Aufgezeichnete Element wurden geschickt mit live übertragenen Veranstaltungsteilen zu einer stimmigen Veranstaltung kombiniert. Es machte Freude, die Tage der deutschsprachigen Literatur im Fernsehen oder Internet zu verfolgen.
Da die vierzehn eingeladenen Autorinnen und Autoren nicht in der gewohnten Form vor Jury und Publikum lesen konnten, wurden ihre Beiträge vorher aufgezeichnet. Im üblichen Ablaufrhythmus des Wettbewerbs wurden die Lesungen auf drei Tage verteilt abgespielt. Direkt im Anschluss an jeden Beitrag diskutierte die siebenköpfige Jury per Videokonferenz aus ihren Büros in Berlin, Wien, Köln oder Zürich heraus. Wie gewohnt, wurden Lesungen und Jurydiskussion live in Fernsehen, Radio und Internet übertragen. Die Jurydiskussionen litten nicht unter der räumlichen Distanz der Jurorinnen und Juroren. Sie waren ein Erlebnis. Intensiv, emotional und manchmal durchaus ins persönliche gehend, diskutierten die vier Männer und drei Frauen der Jury die gehörten Beiträge. Teilweise waren es regelrechte Lehrsunden für literaturinteressierte Laien. Brilliant in dieser Jury übrigens die in Mannheim als Programmdirektorin des Festivals lesen.hören gut bekannte Literaturkritikerin Insa Wilke. Ihre Ausführungen vermittelten einen Eindruck davon, was fundierte Literaturkritik ausmacht. Köstlich wie sie einen Kollegen zur Textarbeit einlud.

Die lebhafte Diskussion setzte sich unter dem interessierten Publikum fort. Vor allem auf der Internetplattform Twitter ging es so lebhaft zu wie bisher in den Sälen und auf den Plätzen in Klagenfurt. Diese rege Diskussion, die üppigen Sendezeiten bei 3sat, die große Resonanz in den Printmedien, senden gemeinsam ein positives Signal: Literatur kann auch im digitalen Zeitalter ein großes öffentliches Interesse auslösen du ihren Platz finden. Ein wenig gehen bei diesen Erkenntnissen die Gedanken zurück an den legendären Marcel Reich-Ranicki, dessen 100. Geburtstag vor wenigen Tagen gedacht wurde. Als Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Kulturjournalisten vor der Bedrohung des Kulturguts Buch durch das Fernsehen warnten und sogar den Begriff Urfehde verwendeten, widersprach er vehement. Er sah die große Chance eines Bündnisses zwischen den Medien Buch und Fernsehen. Und er war es letztlich, der die Buchkritik ins Fernsehen brachte und sie vor allem fernsehtauglich machte. Der Erfolg bestätigte ihn.
Wir gratulieren den Verantwortlichen der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur und sind gespannt auf den Wettbewerb im kommenden Jahr. Dann hoffentlich wieder mit Lesungen vor Publikum in Klagenfurt. Aber hoffentlich auch wieder mit einem lebendigen Programm in der virtuellen Welt.

Auf der Homepage des Bachmannpreises können alle Lesungen und alle Jurydiskussionen abgerufen werden. Es lohnt sich, mit etwas Muße auf dieser Seite zu verweilen.
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Wer heute die Vielzahl italienischer Restaurants in unseren Städten sieht, von der einfachen Pizzeria bis zum Gourmettempel, wer erlebt, mit welcher Begeisterung deutsche Touristen in Italien sich Pasta und Saltimbocca alla Romana oder al Limone hingeben, kann sich nicht vorstellen, dass es einmal anders war. Und doch war es so, wie der Literaturwissenschaftler Dieter Richter, der seit über 40 Jahren zu Italien und den Beziehungen deutscher Künstler zu diesem Land forscht, in seinem Band „Con Gusto – Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht“ aufzeigt. Zu Goethes Zeiten galt die italienische Küche mit dem intensiven Einsatz von Knoblauch und Öl für die Reisenden aus dem Norden noch als äußerst unverdauliche, ja für den nordischen Magen und Darm sogar schädliche Küche. Lang hat es gedauert, bis die Speisen Italiens auch in deutschen Landen Einzug hielt: Zuerst exportierten wandernde „Zitronenmänner“ und „Pomeranzengänger“ die Südfrüchte in den Norden. Später brachten die Eisdielen den Duft des Südens. Es folgten die Pizzerien und besseren Lokale. Richter zeichnet die Entwicklung der Annäherung kenntnisreich nach. Immer wieder müssen die Leserinnen und Leser ob der Vorurteile schmunzeln. Und etwas tröstlich ist die Tatsache, dass die Schwierigkeiten durchaus gegenseitig waren. Italienische Gastarbeiter, die schon im 19. Jahrhundert nach Deutschland kamen, hatten auch ihre liebe Müh und Not mit Spätzle und Kartoffeln und manch italienisches Lebensmittelgeschäft in deutschen Landen hatte seinen Ursprung in der Sehnsucht vieler der neuen Mitbürger nach Spaghetti und Parmesankäse. Auch dieser Blickwinkel bleibt nicht unberücksichtigt. Vollends zur kleinen Kulturgeschichte wird „Con gusto“ wenn Richter auf die inneritalienischen Unterschiede eingeht. Nach der Einigung Italiens in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte sich schnell, dass die Norditaliener, deren Küche stark von den engen Beziehungen zu den habsburgischen Landen geprägt war, genauso mit der Küche Roms oder Neapels fremdelten, wie es vorher den Reisenden aus vielen europäischen Ländern ergangen war. „Butterküche“ oder „Ölküche“ waren auch hier die Schlagworte. Heute kaum mehr vorstellbar ist es, dass die Pizza selbst in Rom erst nach 1945 richtig populär wurde, nur kurz bevor sie in Deutschland Einzug hielt. Davor war sie ein neapolitanisches Regionalgericht. Für die Auseinandersetzung mit der italienischen Küche ist Richter übrigens prädestiniert. Hat er uns doch schon vor fast vierzig Jahren mit seinem 1984 erschienen Buch „Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie“ indirekt dorthin geführt und gezeigt, wie wir sie im 21. Jahrhundert wahrnehmen. Erschienen ist das Buch in einer bei Bücherliebhabern besonders beliebten Reihe: SALTO. Die liebevoll gestalteten kleinen roten Bände des Verlags Klaus Wagenbach stechen in jedem Bücherregal sofort heraus. Oft sind es literarische Reiseführer oder besonders sorgsam ausgewählte Texte aus dem Bereich Kunst und Kultur. Aber auch die Literatur ist gut vertreten. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie stets eine Einladung zu einer kulturellen Begegnung sind und neue Blickwinkel eröffnen. Und da fügt sich „Con gusto“ perfekt ein. „Con gusto – Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht“ von Dieter Richter ist erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, 168 Seiten, 20,-- €.
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